HERRMANN BAASCH

„Neunzig Jahre“

Aufzeichnungen aus meinem Leben

(Aus dem Jahrbuch der Heimatgemeinschaft Eckernförde e.V., Jahrgang 34/1976)


+ Herrmann Baasch

Nach Bd. 51 (5. 27 - 50) des Deutschen Geschlechterbuches, „Chronik der Familie BAASCH in Hamburg“, ist die bodenständige Heimat des Geschlechts „BAASCH“ der Landstrich zwischen Kiel und Eckernförde, in dem noch heute der Name Baasch häufig ist, besonders in den Kirchspielen Gettorf und Dänischenhagen, aber auch in der Stadt Kiel, wo der Name schon Anfang des 17. Jahrhunderts genannt wird — Stamm A-Tischlerberuf — der jüngere Stamm wird später in Hamburg genannt. Ein Zweig dieses Stammes widmet sich dem Kaufmannsstande und wird als „Venezolanischer Zweig“ bezeichnet. Ein familiärer Zusammenhang mit den Kieler bzw. Hamburger Familien Baasch und den nordwestlich von Kiel auf dem platten Lande, besonders in Felm und Umgegend, hat bisher nicht nach­gewiesen werden können. Die Schreibweise des Namens BAASCH wechselte vom Anfang des 16. Jahrhunderts -1504- bis Anfang des 18. Jahrhunderts zwischen Basike, Basche, Basch, Bahsche, Baasche und Baasch (jetzige Schreibweise).Ein Marx Basike aus Fellum - Felm -, Kirchspiel Gettorf, heiratete am 24. 10. 1638 in Dänischenhagen Wipke (Croll(en) aus Sprenge, Gut Birkenmoor, Ksp. Dänischenhagen. Nach der Eheschließung wird das junge Ehepaar im Ksp. Dänischenhagen nicht mehr genannt. Es ist vermutlich an den Aufenthaltsort des Mannes - Fellum - zurückgekehrt, wird aber im Kirchenbuch Gettorf nicht mehr genannt. Die Kirchenbücher Gettorf liegen erst ab 1692 vor.

Meine Heimat ist der „Dänischewohld“, eine kleine Halbinsel zwischen der Kieler und Eckernförder Bucht. In der Mitte dieses Fleckchens Erde liegt mein Geburtsort Dehnhöft, früher Tennhöft, Dähnhöft genannt. Hier erblickte ich am 12. Februar 1886, nachts 2 Uhr, das Licht der Welt. Meine Eltern bewohnten damals eine kleine Wohnung in der zum Gute Friedrichshof, einem früheren Meierhof des Gutes Knoop, gehörenden Waldarbeiterkate „Hohenfidel“ am Wege nach Felm, unmittelbar am Waldrand „Friedrichshofer Holz“, jetzt „Kalendorfer Holz“ genannt.

Meine Mutter erzählte mir in späteren Jahren, dass es eine kalte Februarnacht war und die in Dänischenhagen wohnende Hebamme Hamann es schwer hatte, durch den tief verschneiten Weg Dehnhöft zu erreichen, um ihr in ihrer schweren Stunde Beistand zu leisten. Drei Jahre später verzogen meine Eltern nach dem etwa eine Stunde entfernten Dorf Scharnhagen. Ich habe mein Geburtshaus im Sommer 1936 von Kiel- Neumühlen- Dietrichsdorf aus, meinem damaligen Wohnort, zum ersten Male aufgesucht. Es war, wie die Wohnungsinhaberin, Frau Rausch, mir sagte, in den vergangenen fünfzig Jahren nur wenig verändert worden. Stubenofen und Feuerherd waren erneuert, sonst war alles wie in der früheren Zeit; selbst die einfache Schlafstubentür hatte noch die alte „Eisenklinke“. Im Jahre 1937 machte ich mit meiner Dienststelle „Kreisamt Mitte des städtischen Fürsorgeamtes“ einen Betriebsausflug in den Dänischen Wohld und kam erneut durch meinen Geburtsort, wobei das folgende Foto entstand.

Im April 1948 habe ich auf dem Hofplatz meines Geburtshauses die in dem angrenzenden Wald „Kalendorfer Holz“ gerodeten Stubben gelagert. Das Stubbenroden war bei der damaligen schmalen Kost und einem Alter von 62 Jahren keine leichte Arbeit, besonders für einen Büromenschen.

Meine Eltern haben zeitlebens schwer um ihre Existenz gerungen, besonders, solange wir Kinder noch im Hause waren. Mein Vater, Friedrich Hinrich Baasch, geboren am 7. 1. 1858 im Gute Kaltenhof, gestorben am 25.12. 1943 im Anscharstift zu Neumünster, wo er wegen der auf Kiel herrschenden Fliegerangriffe untergebracht war, war ein stiller, bescheidener Mann, uns Kindern ein guter Vater. Er kannte nur seine Arbeit und die Sorge für seine Familie. Nur selten sah man ihn lächeln, wohl eine Folge des harten Lebenskampfes, der ihn nie hat richtig froh werden lassen. Ich habe nie ein unflätiges Wort von ihm gehört, wenn er auch sonst eine derbe Sprache redete, habe ihn auch nie betrunken gesehen. Er trank nur morgens gleich nach dem Aufstehen und abends bei der Heimkehr von der Arbeit einen kleinen „Schluck“, der der Gesundheit diente, denn die Dreiviertelliterflasche musste 14 Tage reichen. Sie kostete fünfundsechzig Pfennige. Der Arbeitsverdienst betrug bei einem 10-, später 9-stündigen Arbeitstag viele Jahre hindurch vierundzwanzig bis sechsundzwanzig Mark vierzehntägig. Außerdem hatte Vater von 1889-1904 einen täglichen Fußmarsch von Scharnhagen nach Friedrichsort zur Torpedo-Werkstatt hin und zurück je 9 km 18 km zurückzulegen.
Meine Mutter, Caroline Christine Dorothea Baasch geb. Röpstorf, geboren 4. 4. 1861 in Lindhöft, Gut Noer, gestorben 1. 7. 1943 im Anschar-Krankenhaus zu Kiel, Wohnung Kiel-Pries, infolge eines Unfalls (Fall von der Kellertreppe, wobei sie sich einen Schädelbasisbruch zuzog), war trotz aller Not und Drangsal des Lebens eine Frohnatur, mochte die Not auch noch so groß sein, die nie den Mut verlor und mit gesundem, oftmals derben Humor durchs Leben ging.

Sie war außerordentlich anpassungsfähig und allen Tagesfragen gegenüber aufgeschlossen. Sie war, sofern sie hatte, sehr gebefreudig. Ihren Enkelkindern gegenüber hatte sie, wenn diese sie besuchten stets eine offene Hand. Wenn ich heute das Bild meiner Mutter betrachte spricht aus ihrem gütig lächelnden Gesicht ein Leben voll Not und Sorge. Die Sorge für des Leibes Nahrung und Notdurft der  Familie hat zeitlebens auf ihren Schultern geruht. Vater lieferte am Zahltag seinen kargen Verdienst bis auf ein paar Pfennige für Tabak restlos ab. Der Mutter blieb es überlassen, die Bedürfnisse der Familie von dem wenigen ihr zur Verfügung stehenden Geld zu bestreiten. „Seh to, wie du dormit ferti wars“, hörte ich meinen Vater manchmal sagen. Diese Worte klangen zwar gleichgültig, waren aber Ausdruck der begreiflichen Unzufriedenheit mit den herrschenden wirtschaftlichen Verhältnissen. Es kam oft vor, dass am Tage vor der Lohnzahlung kein Pfennig mehr im Hause war, um ein Brot für den nächsten Tag zu kaufen, damit Vater Frühstücks- und Mittagbrot zur Arbeit mitbekommen konnte. Dann wurden beim Höker  zehn Eier gegen ein Schwarzbrot zum Preise von dreißig Pfennig eingetauscht. Das soll keine Klage sein, sondern nur ein Vergleich mit der heutigen Wohlstandsgesellschaft. Nach mehr als fünf Jahrzehnten, 1951, sagte der nunmehr hoch betagte Höker zu mir, als wir uns nach langen Jahren wieder sahen: "Wat weern din Öllern doch arm"!
Das wusste ich, habe mich aber unserer früheren Armut nicht geschämt. Wir waren inzwischen auch ein Stück vorangekommen. Seine Worte sollten auch nicht beleidigend sein. Er hatte mir vor meiner  Schulentlassung bei der Berufswahl beratend zur Seite gestanden. Er starb 1953 im 87. Lebensjahre. Die bis auf den letzten Platz vollbesetzte Kirche in Dänischenhagen anlässlich der Trauerfeier bewies, dass es sich um einen angesehenen Mann handelte.

Meine Großeltern väterlicherseits, (vs) Hinrich Christian Baasch, geboren 2.1.1821 in Felm, Ksp. Gettorf, gestorben 18.1.1891 im Gute Kaltenhof, und Anna Margaretha geb. Kobarg, geboren 11.10.1821 in Felm, gestorben 6.11.1891 im Gute Kaltenhof, habe ich kaum gekannt. Ich erinnere mich, dass ich sie einmal gesehen habe. Mein Großvater war als Forstarbeiter im Forsthaus „Stodthagen (Thurenholm)?, Gut Kaltenhof, beschäftigt und hat uns einmal, als ich noch nicht zur Schule ging, zu Weihnachten einen Tannenbaum gebracht.
Der Großeltern mütterlicherseits (ms) erinnere ich mich dagegen sehr gut, besonders der Großmutter. Großvater Hinrich Röpstorf, geboren 4.2.1834 in Holtenau, ein kleiner, stiller Mann, der in jüngeren Jahren durch Fall vom Erntewagen einen Beinbruch erlitten hatte - das Bein musste amputiert werden, - starb am 12.1.1893 in Schilksee. Er war jahrelang arbeitsunfähig. Rente gab es damals noch nicht. Die Folge war, dass Großmutter, Sophie R. geb. Mangels, für den Haushalt sorgen musste und das Regiment führte. Sie war eine resolute, schlag­fertige Frau, die es in der Arbeit mir jedem aufnahm und viele Jahre auf dem Gute Seekamp bei dem Hofbesitzer Wilhelm Olde, Vater des Kunstmalers und Professors Hans Olde, beschäftigt war. Sie war immer vergnügt, voll heißenden Humors, nahm auch ihrem Arbeitgeber gegenüber kein Blatt vor den Mund. Als sie eines Tages ihrem Herrn gegenüber eine scharfe Bemerkung machte, meinte dieser wohl gelaunt: „Na, Sophie, weer dat ni meist‘n beeten hart?“, gab sie zur Antwort: „Hart woll, Herr Olde, awer woar“! womit die Sache abgetan war. Ihrer kurzen Schritte wegen wurde sie auch „Sophie mit de korten Hacken“ genannt. Schreiben hatte sie nicht gelernt — geboren am 4. 8. 1839 in Lindhöft, Gut Noer. Erst im hohen Alter, als sie eine kleine Altersrente bekam, gab sie die drei Kreuze auf und lernte noch ihren Namen schreiben. Sie starb 1922 —Sterbetag nicht bekannt — in Hamburg-Harburg, wo sie ihrem Schwiegersohne nach dem Tode ihrer jüngsten Tochter Marie den Haushalt führte, im 83. Lebensjahre.

Meine weiteren Vorfahren vs. waren Hufner und Hufenpächter im Gute Kaltenhof, wo sie seit 1707 auf der „Karksbuernstelle“ in Felm amtlich nachgewiesen werden. — s. Blatt 40 - 42 — Sie waren dort schon bedeutend früher ansässig, aber die Kirchenbücher des Kirchspiels Gettorf liegen erst ab 1692 vor. „Das Register der Contribution so angeordnet bei gehabter Kirchenrechnungh Dinstags nach Galli (16. Oktober) 1636 und kurtz für Weihenacht dem Kirchspiel angemeldet“ ist genannt in Felm (Velm) unter neun Hufnern „Marks Basche und Johann Basche und ein Wurtsitter Vornahme fehlt — Basche. Jetziger Besitzer der „Karksbuernstelle“ in Felm ist Hermann Baasch bzw. sein Sohn Jürgen. Der Großvater von Hermann Baasch, Jürgen Friedrich B. war ein Vetter meines Vaters.

Die Röpstorfsippe stammt aus dem früheren adligen Gute Seekamp, bereits 1507 in der Gettorfer Kirchenrechnung nachgewiesen wird. Dor Marquard „Ropesdorpe“ aus Pries zwei Mark an die Gettorfer Kirchenkasse zurück. Die Röpstorfs werden von 1638 ab (Beginn des Kirchenbuches Dänischenhagen) als Leibeigene im Gute Seekamp, (Sehehorst, Sehekampf, einige Jahre vor 1575 vom Gute Knoop abgeteilt, s. Vertrag der Gebrüder Rantzau vom Dreikönigstag 1575) in den Dörfern Pries, Holtenau und Schilksee aufgeführt, haben also den Boden Seekamps mit ihrem Schweiße gedüngt.

Die Witwe von Peter Christian Röpstorf — mein 3. Urgroßvater, Sophie Maria Bülk, heiratete in 2. Ehe am 6. 4. 1781 Joachim Hinrich Röpstorf aus Pries der damit Setzwirt wurde, bis der älteste Sohn von Peter Christian, Paul Hinrich, die Stelle nach dem Tode seines Stiefvaters am 27.4.1797 übernahm, und sie einige Jahre später parzellenweise an Kieler Händler und Kaufleute verkaufte. Er selbst wurde wieder Tagelöhner im Gute Seekamp. (Sozialer Abstieg!).

Sophia Maria Bülk, 3. Urgroßmutter ms. starb am 23.1.1823 in HoItenau, 88 Jahre alt. Das Sterberegister Dänischenhagen nennt ein Alter von 99 Jahren. Das stimmt nicht. Ich habe sie auch nicht 1724 festgestellt, denn für die Zeit 1716-1726 (Pastor Königsmann) liegt kein Taufregister vor. Sie ist laut Taufregister am 24.4.1735 in Holtenauh geboren und war bei ihrem Tode 88 Jahre alt. Bei der Verkartung der Kirchenbücher habe ich wiederholt festgestellt, dass der Kirchenbuchführer sich um 10 Jahre verrechnet hatte. Ich erinnere, dass eine Abel Röpstorp im Sterberegister Dänischenhagen mit einem Alter von 107 Jahren nachgewiesen wird. Ob das angegebene Alter stimmt, erscheint mir sehr fraglich.

Sophie Maria Röpstorp geb. B ü l k wurde vier Wochen nach ihrem Tode am 24.2.1823 in Dänischenhagen beigesetzt. Es war Winter. Die engen Landstraßen waren wahrscheinlich zugeschneit und das Erdreich so hart gefroren, dass Bestattungen nicht vorgenommen werden konnten.

Aber nun wieder zu meinen Eltern zurück. In der am 28. Oktober 1883 in Dänischenhagen geschlossenen Ehe wurden sieben Kinder geboren, darunter zwei Zwillingspaare, alles Mädchen, die im 1. Lebensjahr starben. Ich war das zweitälteste Kind. Mir vorauf ging meine Schwester Elise, geboren am 2.12.1883 in Altenholz im früheren Knooper Armenhause, wo meine Eltern nach ihrer Eheschließung zuerst Wohnung bekommen hatten. Mein Vater war Tagelöhner auf dem zum Gute Knoop gehörenden früheren Meierhofe Friedrichshof. Besitzer des Gutes Knoop war seit 1869 Ingward Martin Clausen aus Hadersleben, gestorben 1902 auf Knoop, bestattet auf dem Südfriedhof in Kiel. Cl. ging mit 20 Jahren als kaufmännischer Angestellter nach St. Thoma/ Westindische Inseln, die damals zu Dänemark gehörte, erwarb dort ein erhebliches Vermögen und ging nach Monterey/ Mexiko, heiratete eine Mexikanerin, mit der er 15 Kinder hatte (siehe den Aufsatz von Dr. Otto Achelis in diesem Jahrbuch 26/1968, Seite 86 bis 97 „Ingward Martin Clausen, ein Wohltäter seiner Vaterstadt Hardersleben“).

Am 30. 10. 1887 wurden meine Zwillingsschwestern Margaretha und Anna geboren. Am 1. Mai 1889 verzogen meine Eltern von Dehnhöft nach Scharnhagen. Beide Dörfer gehören zum Kirchspiel Dänischenhagen, eine knappe Wegstunde voneinander entfernt. Wenn auch erst drei Jahre alt, erinnere ich mich dieses Umzuges noch recht gut. Es ist meine erste Kindheitserinnerung. Der künftige Vermieter meiner Eltern, Bauer Bredenbek, Scharnhagen, stellte für den Umzug zwei Kastenwagen zur Verfügung. Auf dem ersten Wagen wurden die Familie-Eltern und zwei Kinder, der geringe Hausrat und das einzige Stück Vieh - eine Ziege, platziert Der zweite Wagen war überwiegend mit Brennholz beladen. Der Wagen mit der Ziege blieb in meiner Erinnerung haften. Unsere neue Wohnung war eine Räucherkate, eine frühere Landinstenwohnung, die, wie der größte Teil des Dorfes Scharnhagen, zum adligen Gute Eckhof gehörte, das bis Mitte des 18. Jahrhunderts ein Meierhof des adligen Gutes Bülck war. Das Haus war in verkleinertem Maßstabe im Baustil eines niedersächsischen Bauernhauses errichtet, d.h. rechts und links der Haustür bzw. der Lehmdiele lagen die kleinen Stallungen und im hinteren Teil die Wohnung, zwei kleine Stuben, die Küche mit offenem Feuerherd und eine kleine Kammer. Die Wohnstube hatte Bretterfußboden, der mit weißem Sand bestreut wurde. In diesem Hause haben meine Eltern viele Sorgen gehabt. Vater hatte zwar das Glück, bald nach dem Wohnungswechsel in der im Aufbau begriffenen Kaiserlichen Torpedo-Werkstatt in Friedrichsort 9 km vom Hause entfernt, eine Dauerbeschäftigung zu bekommen, musste diese aber bald wieder aufgeben, weil er nach dem Mietvertrag verpflichtet war, für seinen Vermieter Bredenbek auf dessen Torfmoor bei Scharnhagen den Haustorf zu backen. Die Torpedo-Werkstatt lehnte es ab, Vater für die Dauer der Torfbäckerei, etwa vier bis fünf Wochen, zu beurlauben. Der Vermieter bestand auf Erfüllung des Mietvertrages und Vater war gezwungen, seine Entlassung zu nehmen. Er musste bis November auf Wiedereinstellung warten. Dadurch kamen die Eltern wirtschaftlich sehr zurück. Der Bedarf an Arbeitskräften war damals sehr gering. Hier eine weitere Kindheitserinnerung: Die schon erwähnte Ziege auf dem Umzugswagen sah Mutterfreuden entgegen und brachte bald nach dem Umzug zwei Lämmer - leider Böcke - zur Welt, auf die kein Wert gelegt wurde. Ich war aber sehr erfreut und schmiedete in meiner Kinderphantasie große Pläne. Wenn die Lämmer erst herangewachsen waren, wollte ich einen Wagen haben, die Böcke davor spannen und mit diesem Gefährt im Dorfe herumkutschieren. Daraus wurde leider nichts. Die neugeborenen Tiere lagen am nächsten Morgen tot im Stalle. Ich war sehr enttäuscht, musste mich aber den von Vater geschaffenen Tatsachen beugen. Am 1. Mai 1890 mussten meine Eltern, wenn sie nicht noch weiter wirtschaftlich zurückkommen wollten, erneut einen Wohnungswechsel vornehmen, erhielten zum Glück im selben Dorfe am Wege nach Freidorf/Eckhof im „Harredder“ (Hirtenredder) eine passende Wohnung, in der am 19. Juni 1893 mein Bruder Christian geboren wurde. Er starb am 11. Dezember 1961 in einer Klinik in Kiel-Ellerbek. Er wohnte in Kiel- Gaarden, Alte Lübecker Chaussee 104.

Ostern 1892 hatte für mich der Ernst des Lebens begonnen. Ich kam zur Schule. Wie der Anfang war, erinnere ich nicht mehr, ich meine aber, dass wir sieben Jungs waren, die alle ihren Platz auf der ersten Bank, unmittelbar vor dem Lehrer hatten. Die Schule lag in Freidorf, am Wege nach Alt Bülk, gut 10 Minuten vom Elternhause entfernt. Ich habe sie neun Jahre besucht, vier Jahre die 2. Klasse (Elementarklasse) und fünf Jahre die 1. Klasse. Jede Klasse hatte gut 70 Schulkinder. Die Lehrer hatten keine leichte Arbeit und gebrauchten zur Aufrechterhaltung der Ordnung, besonders in der 2. Klasse, „den Hasseln“ (Haselstock), der nach Bedarf aus dem der Schule gegenüber liegenden Knick erneuert wurde. Mein erster Lehrer in der 2. Klasse war Wilhelm Harms, Sohn eines Tischlermeisters in Stöcksee, Kreis Nienburg/Weser. Er wurde von den Einheimischen der „Seminarist“ genannt, zum Unterschied von dem Hauptlehrer Rohwedder, der „Autodidakt“ war. Lehrer Harms wurde im Herbst 1895 an die einklassige Schule in Haby, Kreis Eckernförde, versetzt. Sein Nachfolger in Freidorf war der Schulamtskandidat Detlef Klein, Sohn eines Fischermeisters in Ellerbek (Kiel-Ellerbek). Ostern 1896 kam ich in die 1. Klasse zu Hauptlehrer Rohwedder, der am 1. April 1898 in den Ruhestand trat. Da kein Nachfolger für ihn gefunden wurde, unterrichtete er bis Ende Juni noch einige Stunden wöchentlich und erhielt für die Unterrichtsstunde ganze 0,75 Mark. Am 1. Juli verzog er nach Burg/Dithmarschen, wo er am 4. April 1900 starb, 66 Jahre alt. Bis Ostern 1899 wurde die 1. Lehrerstelle von dem Schulamtskandidaten Schmidt verwaltet. Dann wurde sie endgültig mit dem bisherigen 2. Lehrer in Dänischenhagen, Matthäus Kollbaum, besetzt, von dem ich Ostern 1901 mit einem guten Schulzeugnis entlassen wurde.

Ich erinnere mich meiner alten, zweiklassigen Schule gern und habe ihr und meinen Lehrern immer ein gutes Gedenken bewahrt. Als Sechsundsiebzigjähriger schrieb ich einen Aufsatz über meine alte Schule: „Die Schule in Freidorf und ihre Lehrer“, der in diesem Jahrbuch 20/1962 veröffentlicht wurde.

In der Nacht vom 11. zum 12. Februar 1894 herrschte in unserer ein sehr starker Südweststurm, verbunden mit einem wüsten Schneetreiben, der viel Schaden anrichtete, u. a. das Strohdach des in unserer unmittelbaren Nachbarschaft liegenden großen Bauernhauses H a g e n buchstäblich auseinander klappte, für uns Kinder ein selten schauriger Anblick. Sobald der Winter beendet war, wurde mit dem Wiederaufbau begonnen, der von uns Jungs mit großem Interesse verfolgt wurde. Vor allen Dingen konnten wir sehen, was Zimmermannsarbeit war. Die langen Sparten wurden auf die Decke über den Viehställen gelegt und nach Verbindung mit den Querbalken (Hahnbalken) in der Spitze zusammengefügt und dann mit Leinen unter Mithilfe von Leitern Fach für Fach aufgerichtet. Abends stand das Dach, durch die ersten Querlatten miteinander verbunden. Nach wenigen Tagen rückte der Dachdecker an, der ein sauberes Reetdach herstellte.

Acht Jahre alt, arbeitete ich schon einige Tage im Mai/Juni auf dem Gute Eckhof. Eine Anzahl Kinder mussten unter Aufsicht mehrerer Hoffrauen Senf jäten. Der damalige Besitzer von Eckhof, Theodor Brun von Neergaard, war einer der ersten Gutsbesitzer im Dänischen Wohld, die sich dem Anbau von Futterrüben zuwandten. Die Rübensaat wurde eingedrillt und mit ihr die Unkrautsaat, besonders der „wilde Senf“, was zur Folge hatte, dass im Jahre nach dem Rübenanbau die große Hofkoppel gelb von Senf war. Der Tagelohn für die Kinder betrug sechzig Pfennig, für einen halben Tag also 30 Pfennig. ,,Kinnerhand is lich füllt“ lautet ein altes Sprichwort. So dachte man auch wohl auf Eckhof. Von meinem 10. bis 12. Lebensjahre arbeitete ich in meiner schulfreien Zeit und in den Sommerferien (August) bei dem schon genannten Bauern Hagen, sofern meine geringe Arbeitskraft benötigt wurde. Außer der Kost, oftmals nur Vesper und Abendbrot erhielt ich als Zehnjähriger nach Beendigung der Ernte für das Sommerhalbjahr ganze vier Mark, im nächsten Jahre doch schon zwölf Mark Barlohn ausgehändigt. Für diese 12 Mark kaufte meine Mutter mir im Herbst 1897 den ersten selbstverdienten Sonntagsanzug „von der Stange“. Durch diesen Einkauf kam ich zum Male nach Kiel. Für den Weg dorthin benötigte man ca. zweieinhalb Stunden. Ich weiß heute nicht mehr, welchen Eindruck die große Stadt damals auf mit gemacht hat, ich erinnere aber, dass es ein nebliger, nieseliger Novembertag war. Kiel hatte damals schon fast 100 000 Einwohner.

Ab Ostern 1898 wurde ich mit Rücksicht auf die schwierige wirtschaftliche Lage meiner Eltern für das Sommerhalbjahr vom Schulunterricht dispensiert, damit ich durch meiner Hände Arbeit zum Unterhalt der Familie beitragen konnte. Ich ging nur zweimal in der Woche einen Vormittag zur Schule. Für die Zeit von Ostern bis Michaeli (Herbst) wurde ich zu dem Bauern Hagen, bei dem ich schon zwei Sommer gearbeitet hatte, als Dienstjunge vermietet. Neben Kost und Unterkunft sollte ich für das halbe Jahr 10 Taler = 30 Mark Barlohn erhalten. Schon eine Woche nach Ostern war meine Tätigkeit als Dienstjunge beendet. Ich konnte „Mutters Schornstein nicht mehr rauchen sehn“ und bekam Heimweh. Nach einem Besuch im Elternhause am Sonntag nach Ostern ließ ich mich bei meinem Dienstherrn nicht wieder sehn, was er auch nie übel genommen hat. Er hat mich auch nie gefragt, warum ich nicht wieder zu ihm kam. Meine wenigen Habseligkeiten holte ich einige Tage später heimlich aus meiner Kammer nach Hause. Die Aufgabe der Dienstjungenstelle bedeutete aber nicht, dass ich zu Hause herumfaulenzen durfte. Ich nahm unverzüglich Arbeit als Hofjunge auf dem Gute Eckhof an und verdiente dort täglich 0,80 M, in der Ernte beim Garbenbinden 1,-- M, weil die Hofjungen dann dieselbe Arbeit leisteten wie die Hoffrauen. Im letzten Schuljahre arbeitete ich auf dem Gute Neubülk. Vom Schulunterricht war ich jedoch nicht befreit.

Die Eltern hatten im Frühjahr 1895 erneut einen Wohnungswechsel vornehmen müssen und wohnten wieder in einer ehemaligen Landinstenkate des Gutes Eckhof, deren Besitzer der Höker und Landmann Johannes Misfeld war, der in ihr zwei kleine Wohnungen eingerichtet hatte. Die Diele in der Mitte des Hauses und der Boden wurden von ihnen zur Unterbringung der Ernte von dem von ihm bebauten Acker, etwa 1 1/2 ha groß, genutzt. Die Kate, „Borndiek“ genannt, lag auf halbem Wege zwischen Scharnagen und Freidorf. Sie ist nach 1904 abgebrannt und nicht wieder aufgebaut worden. Als meine Eltern am 1. Mai 1904 nach Pries verzogen (Kiel-Pries) wurde die Wohnung an den Dachdecker Christian Baasch aus Surendorf vermietet, der, nachdem „Borndiek“ abgebrannt war, ein Unterkommen in der von meinen Eltern 1889/90 bewohnten Landinstenkate fand, deren Eigentümer in­zwischen auch der Höker Johannes Misfeld geworden war. Dachdecker Baasch hat später dieses bebaute Grundstück von M. für 3 000 Mark gekauft. Das Grund­stück ist heute noch im Besitz seiner Nachkommen. Das Haus ist 1971 erneuert worden.
In „Borndiek“ wurde meinen Eltern am 16.9.1896 ein zweites Zwillingspaar geboren, zwei Mädchen, die beide im März bzw. Mai 1897 starben.

Die Schulzeit war die schönste Zeit. Das merkte ich besonders, wenn ich während der Sommerferien morgens um fünf Uhr, wenn Vater das Haus verließ und sich zur Arbeit nach Friedrichsort begab, aufstehen und mich zum Gute Eckhof bzw. Neubülk zur Arbeit auf den Weg machen musste. Die Arbeit begann um sechs Uhr. Mittagspause war von 12 bis 1 1/2 Uhr, Feierabend um 6 1/2 Uhr, beim Einfahren oftmals um 8 Uhr. Dann war es auch schon fast dunkel.

Der Schulunterricht fiel mir nicht schwer. Ich erinnere nicht, dass ich fremder Hilfe bedurfte, die mir auch niemand geben konnte. In der schulfreien Zeit hielt ich mich im Dorfe auf, sofern ich nicht zu häuslichen Arbeiten herangezogen wurde. Ich ging oft heimlich vom Hause fort (ich rückte aus) und erhielt dann beim Nachhausekommen, kurz vor dem Eintreffen meines Vaters von der Arbeit, von meiner Mutter eine wohlverdiente Tracht Prügel. Ich war zeitweise ein Rüpel, verübte manchen dummen Streich und habe meiner Mutter Kummer und Sorgen bereitet, wovon der Vater oft nichts erfuhr. Der strengen Zucht der Mutter verdanke ich es wohl, dass ich später doch noch ein brauchbarer Mensch wurde. Von meinem Vater habe ich nie Schläge bekommen, höchstens ein derbes Scheltwort. Er war auch nur nachts und sonntags zu Hause. Trotz karger Kost und langer Arbeitszeit (Schmalhans war bei uns immer Küchenmeister) ist er doch fast 86 Jahre alt geworden. Aber auch Mutter hat, soweit die häuslichen und ihre gesundheitlichen Verhältnisse es zuließen, durch ihrer Hände Arbeit bei einzelnen Bauern und auf dem Gute Eckhof zum Unterhalt der Familie beigetragen. Trotz aller Fährnisse des Lebens hatten die Eltern doch noch einen schönen Lebensabend. Als sie am 1. Juli (Mutter) und am 25. Dezember 1943 (Vater) heimgingen, war es wirklich ein erfülltes Leben!

Im Herbst 1900 begann für mich der Konfirmandenunterricht, damit auch für meine Eltern die Sorge, was nach Ostern 1901 aus mir werden sollte. Die wirtschaftlichen Verhältnisse meiner Eltern gestatteten nicht, dass ich ein Handwerk erlernte. Sie waren bei ihrem Einkommen nicht in der Lage, mich drei bis vier Jahre durchzuhalten. Das Schicksal hatte aber ein Einsehen. Der Vermieter machte mich eines Tages, als ich ihm bei der Landarbeit half, darauf aufmerksam, dass nach einer Bekanntmachung im Kreisblatt die Möglichkeit bestände, eine Unteroffizier-Vorschule und Unteroffizierschule zu besuchen, um als länger dienender Soldat einmal Beamter zu werden. Das wäre etwas für mich. Dort hätte ich eine gute Schulausbildung und vollkommen freien Unterhalt. Es sollten am 1. April 1901 bei der Unteroffiziers-Vorschule (U-V) Annaburg bei Wittenberg (Lutherstadt) noch Zöglinge eingestellt werden. Da ich mich für den „bunten Rock“ interessierte, waren meine Eltern einverstanden. Im November 1900 fuhr mein Vater mit mir zum Bezirkskommando in Schleswig, wo ich auf körperliche Tauglichkeit untersucht und in den Elementarfächern geprüft wurde. Ich genügte den Anforderungen und sollte weitere Nachricht abwarten. Im Februar 1901 erhielt ich den Annahmeschein für die U.V. Annaburg und die Aufforderung, mich am 16. April beim Bezirkskommando Schleswig zwecks Einstellung einzufinden. Diese sollte am 17. April erfolgen.

Palmsonntag 1901 wurde ich in der Kirche zu Dänischenhagen konfirmiert. Eine besondere Feier fand zu Hause nicht statt. Nachmittags erschien mein Lehrer Kollbaum mit seiner Frau, um zu gratulieren. Nach Einnahme einer Tasse Kaffee setzten sie ihren Gratulationsweg im Dorfe fort. Den Beschluss machten sie bei dem Bauern Rathje, dessen Sohn Heinrich neben mir die Schulbank gedrückt hatte, und nach Ostern zur Präparandenanstalt Apenrade (Nordschleswig), ging, um seine Ausbildung als Volksschullehrer aufzunehmen. Wir sahen uns nach der Konfirmation zum letzten und (zum ersten Male) auf unserer Goldenen Konfirmation am 21. September 1952 in Dänischenhagen wieder. Nachdem haben wir noch einige Briefe gewechselt, haben uns aber vollständig auseinander gelebt. Er ist am 15. Februar 1975 in Burg/Dithmarschen im 90. Lebensjahre verstorben.
Nach der Konfirmation blieben mir noch vierzehn Tage bis zur Abreise nach Annaburg, während der ich mich zur Entlastung meines Vaters mit häuslichen Arbeiten beschäftigte. Viel Abschied brauchte ich nicht zu nehmen, da ich keinerlei Bindungen (Freunde) hatte. Um am 16. April, 10 Uhr, rechtzeitig beim Bezirkskommando in Schleswig zu sein, musste die Hinreise schon am 15. April angetreten werden. Bald nach dem Mittagessen machte ich mich in Begleitung meines Vaters mit einem kleinen Köfferchen, das die wenigen mitzubringenden Sachen, wie Unterwäsche usw. enthielt, in der Hand auf „den Weg ins Leben“. Von Scharnhagen nach Gettorf zu Fuß (etwa 2 1/2 Stunden), dann mit der Bahn über Süderbrarup nach Schleswig. In der Haustür stand meine Mutter und sah mir tränenden Auges nach. Ihr letztes Wort: Gah mit Gott, min Sühn“, habe ich nie vergessen. Ich sehe meine Mutter in ihrer einfachen, ja, ärmlichen Kleidung noch heute vor mir.

Auf dem Bezirkskommando traf ich am nächsten Morgen mit mehreren jungen Leuten zusammen, die auch zur Unteroffizier-Vorschule einberufen waren, einige nach Greifenberg in Pommern, andere nach Weilburg/Lahn und Neu-Breisach/ Baden. Darunter war auch ein Namensvetter Adolf Baasch aus Gettorf, den ich nach zwei Jahren auf der Unteroffiziersschule Treptow/Rega - 1. Komp.- wieder traf. Dort geriet er „unter die Räder“. Er wurde wegen Diebstahls mit drei Wochen strengem Arrest bestraft und nach Verbüßung der Strafe „wegen moralischer Unbrauchbarkeit“ entlassen. Einige Jahre später, es mag 1908 gewesen sein, hörte ich noch einmal in Kiel von ihm, als er wegen sittlicher Verfehlungen polizeilich verfolgt wurde.

Wir wurden nochmals ärztlich untersucht, eingehend instruiert, mit Reiseausweisen versehen und nachmittags vom Schleswiger Bahnhof aus in Marsch gesetzt. Bei der Einstellung waren sechs Mark zur Beschaffung der ersten Putzmittel abzuliefern, die vorsorglich dem Kommando der U.V. durch die Post übersandt wurden. Bis Neumünster fuhr ich noch in Gesellschaft der nach anderen U. Vorschulen einberufenen Kameraden, dann allein über Ratzeburg nach Hagenow (Land). Dort machte ich im Wartesaal die Bekanntschaft von drei jungen Leuten, die ebenfalls zur U.V. Annaburg einberufen waren: Martens, ein Gastwirtssohn aus Heide/Holst., ein langer dürrer Mensch, der sehr vornehm tat, Schulz und Rühmann aus Rendsburg, zwei einfache Burschen. Alle drei verfügten anscheinend über reichliches Taschengeld, da sie dem kalten Büffet der Bahnhofsgaststätte eifrig zusprachen. Ich hatte trotz der Geldknappheit meiner Eltern drei Mark Taschengeld mitbekommen. Der Glasschrank mit den so herrlich belegten Brötchen lockte auch mir die ersten Groschen aus der Tasche. Solch schönen gekochten Schinken hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn gegessen. Dazu wurde selbstverständlich unter Führung des branchekundigen Gastwirtssohnes ein großes Helles getrunken. Für die Weiterreise wurde noch ein kleines Fläschchen Cognac — für mich etwas Unbekanntes — gekauft. Jugendlicher Unverstand und Leichtsinn! Als wir in Annaburg ankamen, hatte ich noch fünfundachtzig Pfennig in der Tasche! Unser künftiges Taschengeld, das die U.V. zahlte, betrug monatlich 75 Pfennig, wovon 25 Pfennig für Haarschneiden einbehalten wurden. Mit den restlichen 50 Pfennig konnten wir auch keine großen Sprünge machen, wir gebrauchten auch nichts, da wir Unterkunft, Bekleidung und Verpflegung vom preußischen Staate bekamen und unsere sonstigen Bedürfnisse sehr gering waren. Gegen 11 Uhr abends fuhren wir nun zu vieren von Hagenow weiter über Wittenberge, Magdeburg, Wittenberg (Lutherstadt), nach Annaburg, wo wir am 17. April nachmittags gegen 15 Uhr eintrafen. Dort wurden wir von einigen Unteroffizieren unseres künftigen Domizils militärisch in Empfang genommen und zur etwa 20 Minuten entfernten Kaserne geführt. Aus den vier angebenden Zöglingen in Hagenow war auf der weiten Strecke bis Annaburg ein großer Transport junger Leute geworden. Der Bahnhof Annaburg lag ziemlich außerhalb des Ortes. Es herrschte laues, nieseliges Frühlingswetter. Auf dem Wege zur Kaserne kamen wir an einer Steingutfabrik vorbei, in der mehrere hundert Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt waren. Annaburg war um die Jahrhundertwende ein kleiner, wenig einladender Ort, am Rande der „Lochauer Heide“ mit etwa 3 000 Einwohnern, umgeben von großen Kiefernwäldern. Der Ort machte einen kahlen, unfreundlichen Eindruck. Die Bevölkerung bestand aus Ackerbürgern, kleinen Gewerbetreibenden und Arbeitern, von denen viele im 130 km entfernten Berlin als Bauarbeiter (Wochenendfahrer) beschäftigt waren. Der Ort führt seinen Namen nach dem unserer Kaserne unmittelbar gegenüber liegenden Schloss Annaburg, das Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen seiner Gemahlin Anna errichtete. Kurfürst Friedrich der Weise war es, der 1521 den Augustinermönch D. Martin Luther auf seiner Rückreise vom Reichstage zu Worms nach Wittenberg im Thüringer Walde von Bewaffneten gefangen nehmen und zur Wartburg bringen ließ.

1901 waren im Schloss Annaburg Zöglinge des Militär-Knaben-Erziehungs-Instituts untergebracht. Das Institut wurde, wenn ich recht erinnere, 1716, von dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm 1., Vater des „Alten Fritz“, der auch das „Große Militär-Waisenhaus in Potsdam“ 1724 ins Leben rief, gegründet. Die U. Vorschule wurde 1881 errichtet, bestand 1901 also schon 20 Jahre. Heute gehört Annaburg zur DDR. Die Kaserne der ehemaligen Vorschule ist mit russischem Militär belegt. Fotografieren der Kaserne ist verboten. Das Schloss soll zu Wohnungen umgebaut sein.

Gleich nach dem Eintreffen in der Kaserne wurden wir Neulinge auf die beiden Kompanien verteilt. Martens, Schulz und ich kamen zur 1. und in dieser zur 1. Korporalschaft. Rühmann wurde der 2. Kompanie zugeteilt. Ich habe ihn später nur selten gesehen, nach der Überweisung zur Unteroffizierschule, zwei Jahre später, überhaupt nicht mehr. Unser Korporalschaftsführer war ein älterer Sergeant, ein wirklich guter Vorgesetzter, der nach kurzer Zeit infolge Beendigung seiner 12-jährigen Dienstzeit in den Zivildienst übertrat. Wir sahen ihn ungern scheiden. Ihm folgte ein eben von der Truppe gekommener Unteroffizier, ehemaliger Unteroffizier-Vorschüler und -schüler, ein tüchtiger Soldat, der uns stets korrekt und gerecht behandelte. Nach der Verteilung wurden wir auf unsere Stube geführt. Jeder musste sich sein „Spind“ (Schrank) aussuchen, in dem er Essnapf mit Teller und Essbesteck und ein Handtuch vorfand. Auf jedem Spind lag ein Schemel als „Stuhlersatz“. In der Mitte der Stube standen drei Holztische mit abnehmbarer Holzplatte, die umgedreht wurde, wenn wir untere Sachen putzten. Neben der Stubentür stand ein einfacher Waschtisch, der nie benutzt wurde, auf dem zwei Wasserkrüge standen. Auf dem Fußbrett des Waschtisches hatte die Fußbadewanne aus Zinkblech ihren Platz, die auch nie benutzt wurde, aber ständig unter Glanz gehalten werden musste und jeden Sonnabend beim Revierreinigen mit einer Polierkette gewienert wurde. Über jedem Tisch hing eine Petroleumlampe, der Schrecken der Stubendiensthabenden, die für hell brennende, blanke Lampen zu sorgen hatten.

Wir hatten uns kaum in unserm neuen „Heim“ richtig umgesehen, als wir uns in zwei Reihen auf unsere Schemel setzen mussten und den ersten Unterricht über Verhalten in der Kaserne und Hinweise auf unsere unmittelbaren Vorgesetzten (Offiziere) erhielten, deren Namen hier nicht mehr interessieren. Die Verwaltung, sonst vom Zahlmeister und Unterzahlmeister ausgeübt, wurde vom Rendanten (Zivilbeamter) wahrgenommen. Ihm war ein älterer Unteroffizier als Schreibkraft beigegeben, der dadurch Gelegenheit hatte, sich auf den Verwaltungsdienst vorzubereiten. Zu meiner Zeit war es Sergeant Wichmann, der 1902 nach 12-jähriger Dienstzeit ausschied und eine Anstellung im Zivildienst erhielt. Etwa 1910, ich war seit dem 1. September 1907 im Dienste der Stadt Kiel, fand ich in den Kieler Neueste Nachrichten öfters kleine Artikel über die Sozialversicherung die Reichsversicherungsordnung war im Entstehen — die mit „Wichmann“ unterzeichnet waren. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass der Schreiber dieser Artikel der ehemalige Sergeant Wichmann in Annaburg war, der seit Jahren Beamter der Stadt Kiel war. Er war bei der damaligen Polizeibehörde, der das Versicherungsamt angegliedert war, beschäftigt, war also Experte auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Er war dort auch noch 1924 tätig, als ich durch die Eingemeindung von Neumühlen- Dietrichsdorf wieder zur Stadtverwaltung Kiel kam. Wir haben uns hin und wieder im Rathaus gesehen, sind uns als ehemalige Annaburger aber nie näher gekommen. Ich vermute, dass von seiner Seite ein gewisser Neid bestand, weil ich ihn, etwa 14 Jahre jünger als er, im „Aufstieg“ überholt hatte. Er ging Mitte der zwanziger Jahre in den Ruhestand und kehrte in seine Heimat, Seehausen i. d. Mark, zurück.

Nach dem halbstündigen Unterricht wurden wir in den „Souterrain“ (Keller) geführt und erhielten dort das erste Bad, allerdings nicht in einer Badewanne, sondern in einem Holzbottich. Das Bad wurde uns vom Spieß in höchsteigener Person durch Auf- und Zudrehen des Wasserhahns mit begleitenden Befehlen verabfolgt. Nach kurzer Verschnaufpause auf unserer Stube wurde zum Abendesse­n angetreten. Mit Essnapf und Löffel versehen zog nunmehr die ganze Kompanie, ca. 125 junge Burschen, in den Speisesaal im Souterrain. Es gab Brotsuppe und... teilweise lange Gesichter weil die Suppe nur mit Salz gewürzt war. Wir haben uns jedoch sehr bald an diese Suppe, die es zweimal in der Woche gab, gewöhnt und lernten, sie durch eine kleine Zuckerzutat schmackhaft zu machen, sofern wir uns für 5 oder 10 Pfennig Zucker kaufen konnten. Wir mussten uns auch daran gewöhnen, dass wir als Morgenkost in der Woche fünfmal Mehlsuppe und einmal Brotsuppe erhielten. Nur am Sonntagmorgen gab es einen mit Süßstoff angereicherten Kaffee. Unser Mittagessen war reichlich, kräftig und schmackhaft. Es gab wohl hin und wieder Nörgler, von mir aus muss ich aber bekennen, dass ich eine derart gute Kost nicht zu Hause gehabt hatte. Im Übrigen erhielten wir täglich 750 Gramm Brot (Graubrot, kein Kommissbrot) und 30 Gramm Butter, sonntags 40 Gramm. Am Sonntagabend gab es für jeden zwei kleine Glas (Wasserglas)  Schultheis- Bier. Ab Herbst 1902 wurde die Abendkost abwechslungsreicher (Grießsuppe in Magermilch, Wasserkakao, Pellkartoffeln mit Salzhering usw.). Kurz vor 9 Uhr räumten wir, so gut wir es konnten, unsere Stube auf und begaben uns mit unserem Waschzeug (Handtuch, Seife, Waschlappen, Zahnbürste und Zahnputzpulver-Schlemmkreide) auf unsern Schlafsaal. Zögling Martens war vom Korporalschaftsführer zum Stuben- und Schlafsaalältesten bestimmt worden. Die einzelnen Dienstposten wie Stuben-, Flur-, Schlafsaal- und Waschraumdienst, wurden ­erst am nächsten Tage verteilt. Der Schlafsaalälteste ließ seine Schutzbefohlenen im Schlafsaal antreten und erwartete mit ihnen den U.v.D. Bei seinem Erscheinen kommandierte Martens auf dessen Aufforderung (hilflos) mit heller Mädchenstimme: „Stille stehn?“ Der U.v.D. — es war der wohlbeleibte ­Sergeant Müller — nahm seinen Helm ab und befahl: „Beten“! Erneute Hilflosigkeit beim Schlafsaalältesten, der sich aber fasste und kurz entschlossen das „Vater unser“ sprach, das wohl alle mitgebetet haben. Als Martens geendet hatte, setzte der U.v.D. seinen Helm wieder auf und sagte zu Martens: „Morgen Abend sprechen Sie das richtige Gebet. Ich habe es in den vergangenen 76 Jahren nicht vergessen und lasse es hier folgen:
„Lieber Gott, kannst alles geben, gib auch was ich bitte nun: schütze diese Nacht mein Leben, lass mich sanft und sicher ruhen. Sieh von dem Himmel nieder, auf die lieben Eltern mein. Lass uns alle Morgen wieder fröhlich und Dir dankbar sein“. Es wurde auch vor und nach dem Essen gebetet und gedankt, was von uns 15 bis l7jährigen jungen Menschen als etwas Selbstverständliches hingenommen, nie belächelt oder bespöttelt wurde. Wie ich im April 1975 von einem 83jährigen alten Herrn, der Zögling des Großen Militär-Waisenhauses in Potsdam war, hörte, wurde dort in gleicher Weise verfahren. Nach dem Abendgebet mussten wir unser Waschzeug vorzeigen und dann unverzüglich „Schlafengehen“. Jeder suchte sich schnell ein Feldbett mit fest gestopftem Strohsack (Matratzen mit Krollhaarfüllung waren den Unteroffizieren vorbehalten), Kopfpolster und drei Wolldecken im blau und weißkariertem Bezug und begab sich schnellstens in die „Falle“.

Ich erinnere, dass ich morgens genau so lag, wie ich mich abends hingelegt hatte. Während der Eisenbahnfahrt in der vergangenen Nacht hatte ich überhaupt nicht geschlafen. Am 18. April begann vom Wecken bis Zapfenstreich des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr. Die Betten wurden gebaut, Stuben, Schlafsaal, Waschraum und Flur wurden gereinigt. Nachdem alles in Ordnung gebracht war, nahmen wir die Morgensuppe ein. Um 7 Uhr begann der Dienst.

Die Leserinnen und Leser dieser Niederschrift mögen mir meine Langatmigkeit verzeihen. Es ist mein Lebensweg, den ich aufzeichne. 76 Jahre nach meiner Schulentlassung ziehen an meinem geistigen Auge vorüber. Manches erscheint belanglos, ist für mich aber eine schöne Erinnerung. Wenn der Dienst in den vier Jahren auf der Unteroffizier-Vorschule und -schule auch streng und hart war, war er für mich doch eine gute Erziehung, ja ich glaube, dass ich während dieser Jahre die Grundlage für mein späteres Leben erhielt. Es war preußische Erziehung, in der das Wort „Pflicht“ an erster Stelle stand!

Nach wiederholter ärztlicher Untersuchung und der ersten Einkleidung, die in den nächsten Tagen fortgesetzt wurde, begann die Grundausbildung. Es wurde täglich eine Stunde geturnt, wöchentlich zwei Stunden exerziert und im Sommer einmal wöchentlich Schwimmunterricht in der etwa eine Stunde entfernten, mitten im Kiefernwald gelegenen Schwimmanstalt erteilt. Das Schwimmbassin erhielt sein Wasser durch den „Neugraben“‚ ein künstlich hergerichteter, etwa 2 Meter breiter Wasserlauf, der auch den Ort Annaburg durchfloss. Woher er kam, wohin er floss, ist mir nicht bekannt. Die Wände des ausgehobenen Bassins bestanden aus dicken Kieferstämmen.

Neben dem praktischen Dienst hatten wir wöchentlich einige Stunden Unteroffizierdienstunterricht. Geschichts- und Geographieunterricht erteilten die Jahrgangsoffiziere. Der Unterricht in den Elementarfächern wurde uns von tüchtigen Volksschullehrern gegeben. Unvergessen ist mein erster Lehrer, Kantor Platz, der uns jungen Leute mit wenigen Worten von der richtigen Seite zu packen wusste, auch den größten „Schlot“ derart in seine Schranken wies, dass er verschämt auf die Schultischplatte sah. Kantor Platz wurde im Herbst 1901 nach 50jähriger Schuldienstzeit - er hatte vor Gründung der U.-Vorschule Annaburg, 1881, schon am Militär-Knaben-Erziehungs-Institut Annaburg unterrichtet - in den Ruhestand versetzt und erhielt zum Abschied den „Roten-Adler-Orden IV. Klasse“, in wilhelminischer Zeit eine besondere Auszeichnung und Anerkennung für einen Volksschullehrer. Ende 1969 erfuhr ich, dass zur gleichen Zeit, als Kantor Platz am Mil.­Kn.-Erz.Institut amtierte, dort auch der fr. Volksschullehrer Andreas Schöppa unterrichtete — 1870 bis 1875, - der anschließend Seminarlehrer in Uetersen, Kreisschulinspektor in Tondern und von 1896 bis 1906 Seminardirektor am Lehrerseminar in Eckernförde war. Daraus ist zu entnehmen, dass in Annaburg ausgesuchte tüchtige Volksschullehrer unterrichteten.

Nachfolger von Kantor Platz wurde der aus Ostpreußen stammende Volksschullehrer Papst, der einen besonders guten Deutschunterricht erteilte und durch interessantes Kopfrechnen zum schnellen Denken erzog. Als wir am 1. April 1903 zur Unteroffizierschule Treptow/Rega überstellt wurden, machten wir - nicht alle - einen Tag vor der Abreise bei ihm in seiner Wohnung einen Abschiedsbesuch, worüber er sehr erfreut war. Er hatte für jeden ein anerkennen­des Wort. Ich erinnere noch sehr gut, dass er zu mir sagte: „Baasch, es kommt beim Übertritt in den Zivildienst nicht darauf an, wie viele Klimmzüge und Doppelbeinheben Sie machen können (ich war ein schlechter Turner), sondern dann wird gefragt, was haben sie gelernt. Bleiben Sie so bei, dann werden Sie es auch zu etwas bringen“. Ich glaube ohne Überheblichkeit sagen zu können, dass ich zu seinen guten Schülern zählte. Im April 1903 ahnte ich noch nicht, dass mein freiwillig erwählter Soldatenberuf schon in gut zwei Jahren beendet sein würde und ich wieder von vorn anfangen müsste. Die Abschiedsworte meines Lehrers habe ich aber immer beherzigt.

Im Juni 1901 machte die 1. Kompanie der U.V. Annaburg eine eintägige Wanderfahrt nach Wörlitz in Anhalt- Dessau, frühere Residenz des Fürsten Leopold von Anhalt- Dessau, der als Feldmarschall und Exerziermeister des .Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm 1. in die Geschichte einging. Im Schloss zu Wörlitz, nahe der Elbe, war damals ein Museum untergebracht, in dessen Räumen Erinnerungsstücke an den „Alten Dessauer“ aufbewahrt wurden, angefangen bei seinem ersten Bett und Spielzeug bis zu seinem Sterbebett. Seine Gemahlin war Anna Luise Föhse, eine Apothekerstochter, genannt Anneliese von Dessau. Der große und schöne Schlosspark, der „Wörlitzer Park“, wurde von zahlreichen, künstlich hergerichteten Wasserarmen durchzogen, die von der Elbe abgezweigt waren und kleine Inseln bildeten, auf denen kleine Tempel errichtet waren wie „Tempel des Tags“ und „Tempel der Nacht“ die vielleicht amourösen Zwecken gedient haben. Als wir den Park verlassen wollten, ritt ein hoher Offizier, begleitet von einer großen Militärkavalkade an uns vorbei, würdigte uns aber keines Blickes. Es war General von Hindenburg, der spätere Reichspräsident, zu der Zeit Kommandeur des IV. Armeekorps.

Die Zöglinge der Unteroffizier-Vorschulen - um die Jahrhundertwende sieben -         erhielten außer Oster-, Pfingst- und Weihnachtsurlaub im Spätsommer j. Js. sechs Wochen Erholungsurlaub. Mein erster großer Urlaub begann am 8. August 1901 und dauerte bis Mitte September. Wir durften schon am 7. August fahren. Vorher, am 5. und 6. August, hatten wir „große Besichtigung“ durch den Inspekteur der Infantrieschulen Generalmajor von Uslar, ein alter, väterlicher Herr, der sehr milde mit uns verfuhr und vor dem unsere Vorgesetzten anscheinend mehr „Wind“ hatten als wir Zöglinge. Am 7. August, morgens 5 1/2 Uhr fuhr ich von Annaburg ab und war dank guter Personenzugverbindung abends 7 Uhr in Kiel, wo mein Vater mich erwartete. Wir fuhren mit dem nächsten Schiff nach Friedrichsort und marschierten von dort in 1 1/2 Stunden nach unserem Heimatdorf Scharnhagen. Die Freude der Mutter, ihren Sohn wieder zu sehen, war groß. Der vermeintlich lange Urlaub war schnell vorbei. Von der Verwaltung der U.V. hatte ich einen Freifahrtschein für die Eisenbahn, Verpflegungs- und Brotgeld bekommen. Wenn diese Sätze auch nicht erheblich waren, stellten sie doch ein geringes Taschengeld und eine wirtschaftliche Entlastung der Eltern für meinen Unterhalt dar. Weihnachten und Ostern gab es 14 Tage Urlaub, den ich gern in Anspruch nahm, ohne zu bedenken, wie schwer es den Eltern fiel, das Reisegeld — Rückfahrkarte 10,60 M- aufzubringen und mich zwei Wochen durchzuhalten. Allein das Reisegeld bedeutete fast einen Wochenverdienst meines Vaters. Ich muss mich heute noch meiner Dummheit schämen! Als ich 1903/05 auf der Unteroffiziersschule war, habe ich darüber nachgedacht und auf den Urlaub zu Ostern und Weihnachten verzichtet. In den beiden Jahren auf der U.-Schule bin ich nur einmal auf Urlaub gefahren. Es war der „Große Urlaub“ für vier Wochen. Auch in diesem Falle gab es einen Freifahrtschein, Löhnung (alle 10 Tage 2,20 M), Verpflegungs- und Brotgeld.

Die beiden Jahre in Annaburg gingen schnell dahin. Im Sommer 1902 machten wir eine dreitägige Wanderfahrt durch die „Sächsische Schweiz“, nördlicher Teil des Elbsandsteingebirges an der sächsisch böhmischen Grenze, die viel Abwechslung und Freude brachte. Diese wurde durch den chronischen Geldmangel sehr beeinträchtigt. Am ersten Tage fuhren wir mit der Eisenbahn von Annaburg über Dresden bis Rathen/ Elbe. Von hier aus wurde gewandert. Unser Weg ging in Serpentinen den Basteifelsen hinauf zur Bastei, von wo aus man bei schönstem Sonnenschein einen herrlichen Fernblick über die Elbe und das Gebirge hatte. In der Ferne sah man auf hohem Felsen die alte Festung „Königsstein“, in der mancher Gefangene, der den früheren absoluten Herrschern unbequem war, geschmachtet hat. Ziel unseres ersten Wandertages war Bad Schandau, wo übernachtet wurde. Dort habe ich zum ersten Male in meinem Leben einen großen Windbeutel mit Schlagsahne gegessen. Er kostete 15 Pfennig. Der zweite Wandertag führte immer weiter durch die Berge zum „Kuhstall“, eine versteckte Bergschlucht, in der die Bevölkerung in früherer Zeit Schutz suchte, wenn das Land mit Krieg überzogen wurde, Das Endziel am dritten Tage unserer Wanderung war Herrnskretschen. Der Weg dorthin führte durch die Edmundsklamm und durch das Prebischtor. Es war ein regnerischer Tag. Unsere Verpflegung während des ganzen Tages, die uns morgens ausgehändigt wurde, waren zwei trockene Brötchen und eine Frikadelle. Hungrig und durstig trafen wir am Spätnachmittag in Herrnskretschen ein. Dort erhielten wir eine dicke, mit gekochtem Rindfleisch und Salzgurke belegte Stulle und ein Glas Bier. Gegen 6 Uhr abends fuhren wir mit dem fahrplanmäßigen Zuge heimwärts nach Annaburg, wo wir gegen Mitternacht eintrafen und uns ermüdet auf unser Strohsack legten. In unserer Hoffnung auf eine Abendsuppe wurden wir enttäuscht.

Im Herbst 1902 erhielten wir einen neuen Inspekteur der Infanterieschulen, der alsbald eine Besichtigung der ihm unterstellten U.-Vorschulen und -schulen vornahm und als eine der ersten die U.-Vorschule Annaburg aufsuchte. Ihm hatten wir es zu danken, dass wir fortan jeden Abend eine warme Abendkost bekamen. Neue Besen kehren gut.

Am 15. April 1903 war unsere zweijährige Vorschulzeit beendet. Wir wurden im Sammeltransport zur Unteroffizierschule Treptow/Rega überstellt. Transportführer war Vizefeldwebel Marienthal, ein schneidiger älterer Korporal, der uns am späten Abend vom Bahnhof Treptow/Rega in etwa halbstündigem Marsch zur Kaserne an der Greifenberger Chaussee am äußersten Rande der Stadt, führte und uns in mitternächtlicher Stunde mit seiner klaren, weithin schallenden Stimme dem Offizier vom Dienst meldete. Die Bataillonskapelle hatte uns auf dem Bahnhof mit Musik empfangen und mit klingendem Spiel durch die Stadt zur Kaserne geführt. Sie spielte Frühlingslieder u. a. „Alle Vöglein sind schon da“. War es Hohn, war es Schadenfreude? Auf dem ganzen Wege wurden wir von einer Schar junger Mädchen begleitet (und dabei war es verboten, mit einem kleinen Mädchen spazieren zu gehen).

Nach Verteilung auf die vier Kompanien wurden wir von deren U.v.D. in die einzelnen Kompaniegebäude und dort in unsere Stuben eingewiesen, wo schon einige von anderen Vorschulen im Laufe des Tages eingetroffene Kameraden ihren wohlverdienten Schlaf schliefen. Trotz der späten Stunde erhielten wir noch unser Abendessen:     Grießsuppe und eine „Berliner Goldleiste“, eine Stange Weichkäse. Unser Kommissbrot sechs Pfund schwer, lag im Spind. Nach dem Essen ging es schnellstens in die auf der Stube stehenden Feldbetten. Für einen unbekümmerten Schlaf sorgte unsere Jugend.

Die Unteroffiziersschule Treptow/Rega war am 1. April 1901 gegründet worden, bestand also erst 2 Jahre. Sie war die jüngste unter den bestehenden sieben Schulen. Der Bund ehem. Unteroffizier-Vorschüler und -schüler, dem ich seit 1967 angehöre, veröffentlichte anlässlich seines 10. Bundestreffens am 2. bis 5. September 1971 in Northeim/Hann. in seiner Festschrift einen Auszug aus dem von Oberleutnant Weberstedt im März 1910 in Treptow/Rega herausgegebenen Buche „Die Unteroffizierschule Treptow/Rega“, das leider im Buchhandel nicht mehr zu haben ist. Von den am 1. April 1901 von anderen Truppenteilen zur Unteroffizierschule Treptow/Rega versetzten Offizieren waren April 1903 nur noch wenige am Ort: Hauptmann Fabricius, 4. Kompanie. Er war Junggeselle und verbrachte die meiste Zeit in der Kaserne. Stabsarzt Dr. Evler, der sich zu meiner Zeit an der Camminer Chaussee eine Privatklinik baute. Er wurde nach dem 2. Weltkriege als hoch betagter Mann von den Polen vertrieben. Das erfuhr ich im Frühjahr 1946 in meiner Dienststelle in Kiel-Pries von einem aus Treptow/Rega vertriebenen Spediteur Salchow, der hocherfreut war, einen Menschen zu treffen, der in seiner Heimat gewesen war. Von den in der Festschrift genannten Kompanieoffizieren erinnere ich mich des Oberleutnants Bene, des Leutnants Sabinski, mein Inspektionsoffizier, der Anfang des 1. Weltkrieges ins August 1914 als Hauptmann im Inf. Regt. 35 Brandenburg/Havel fiel. Leutnant Hachfeldt, zu meiner Zeit Batl. Adjutant. Besonders erinnere ich mich des Obermusikmeisters Schulz. Oberl. Bene wurde von Leutnant Reetz abgelöst.
Als wir am 15. April nach Treptow/Rega kamen, war die Kasernenanlage an der Greifenburger Chaussee noch fast neu. Jede Komp. Hatte ihr eigenes Haus. Nach dem 1. Weltkriege war in der Kaserne eine Polizeischule untergebracht. Ob nach Wiedereinführung der Wehrpflicht, 1935, hier wieder eine Unteroffizierschule eingerichtet wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Heute sitzt der Pole dort.

Treptow war eine ausgeprägte Ackerbürgerstadt, mit großer landwirtschaftlicher Umgebung, vielen Kleingewerbetreibenden und Arbeitern. Als Einwohnerzahl hörte ich ca. 7.000. An den Hauptgeschäftstagen, besonders am Sonnabend, standen in der Hauptstraße „Lange Straße“ rechts und links vom Fahrdamm mit „Katzenkopfpflaster“ die Bauernwagen. Während die Bauersfrau beim Kaufmann ihre Einkäufe erledigte, saß der Bauer in der fast hinter jedem Laden liegenden Gaststube und hielt dort bei Bier und einem „Schluck“ seinen Gedankenaustausch mit seinen Berufsgenossen. Der Viehhandel wurde auf dem Schützenplatz abgehalten. Treptow ist eine alte Stadt. Ihre Geschichte ist mir nicht bekannt. Ich entsinne mich noch unsrer Abschiedsfeier Ende März 1905, die, wie auch die Kaiser-Geburtstagsfeier, in der Turnhalle stattfand. Auf dieser Abschiedsfeier sprach Vizefeldwebel Langner einen von ihm verfassten Prolog, der vermutlich aus der Stadtgeschichte entnommen war. Dort hieß es: „Da zog in Treptows Mauern der Priester und Scholarch Johannes Bugenhagen. Er blieb so manchen Tag“. Mehr blieb in meinem Gedächtnis nicht hängen. Es sind seitdem 71 Jahre vergangen. Johannes Bugenhagen war, wie Philipp Melanchthon, ein Freund und Anhänger D. Martin Luthers. Wer Johannes Bugenhagen sehen will, gehe in die Pommernkapelle der Nikolaikirche in Kiel, wo sein von Künstlerhand gemaltes Bild in Lebensgröße zu sehen ist.

Am 15. April war ich Soldat, Füsilier der 2. Komp. U-Schule Treptow/Rega. Mein Kompanieführer war Hauptmann Liebrecht, Ostpreuße (Lorrbaß!), ein angejahrter, ergrauter Offizier, den ich nicht in guter Erinnerung habe, weil er mich noch am Tage meiner Entlassung, 30. 6. 1905, „am liebsten einsperren würde“ wie er wörtlich zum „Spieß“ (Kompaniefeldwebel) bei Anerkennung der Stammrolle sagte. Der Grund: Ich hatte mein Haar kurz schneiden lassen, ohne die übliche „preußische Sechs“, bevor das Kasernentor sich hinter mir schloss. Ohne Gruß und ohne ein gutes Wort für die Zukunft ließ er mich gehen. Ich war froh, als ich draußen war.

Jede Kompanie hatte vier Inspektionsoffiziere, einen Oberleutnant und drei Leutnante, die jeweils auf 2 bis 3 Jahre von ihrem Regiment zur Dienstleistung bei der U.-Schule abkommandiert waren. Mein Inspektionsoffizier war im ersten Jahre der schon genannte Leutnant Sabinski, der 1904 zum I.R.35 in Brandenburg/ Havel versetzt wurde, mit dem er am 1. August 1914 in den Weltkrieg gezogen und gleich in den ersten Augusttagen 1914 im Westen gefallen ist. Sein Nachfolger als Inspektionsoffizier wurde Leutnant von Wittenhorst-Sonsfeld von einem Badischen Regiment, der um 1905 als Freiwilliger zur Schutztruppe nach Südwest-Afrika ging und dort an den Kämpfen gegen die Herero (Bantuneger) teilnahm und wohl nicht zurückgekehrt ist. Er entstammte einer alten preußischen Offiziersfamilie, war im Kadettenkorps erzogen und als Selektaner der Hauptkadettenanstalt in Großlichterfelde bei Berlin bei seinem Ausscheiden zum Regiment zum Offizier befördert worden. Er war von Statur nur klein, aber ein tüchtiger Offizier, den wir alle gern hatten.

Die Leser mögen über diese Aufzeichnungen vielleicht lächeln. Sie können aber daraus ersehen, wie fest diese Jahre sich meinem Gedächtnis eingeprägt haben. Es waren vermeintlich harte Jahre, wurden aber nicht als solche empfunden. Sie gaben uns die Grundlage unseres Lebens.

Auf der U.-Vorschule hatten wir, wie schon erwähnt, hauptsächlich theoretischen Unterricht, auf der Schule war es umgekehrt. Wir waren Soldat, waren vereidigt und unterstanden den Militärgesetzen. Der Infanteriedienst begann. Der Unterricht erstreckte sich auf einige Stunden Unteroffiziersdienstunterricht. Geschichts- (Preußische Gesichte) und Geographieunterricht wurde von den Inspektionsoffizieren erteilt. Elementarunterricht hatten wir nur an einem Vormittag in der Woche, der uns durch besonders tüchtige Volksschullehrer vermittelt wurde. Unser Sold betrug, wie damals für alle Infanteristen, 2,20 M alle 10 Tage.

Nach Beendigung der Rekrutenausbildung und -besichtigung wurde die Kompanie zusammengestellt. Es begann die Kompanieausbildung, die ebenfalls mit der Besichtigung abschloss. Die Angehörigen des jüngeren Jahrgangs erhielten im August vier Wochen Erholungsurlaub, der ältere Jahrgang ging im September 14 Tage ins Manöver. Ich erhielt wegen ungenügender Schießleistungen keinen Erholungsurlaub und wurde während der Abwesenheit der Urlauber und des am Manöver teilnehmenden älteren Jahrgangs dem so genannten Wachkommando zugeteilt. In gleicher Weise wurde bei der 1., 3. und 4. Kompanie verfahren. Unsern vierwöchigen Urlaub erhielten wir Ostern 1904. Auf Weihnachtsurlaub verzichtete ich, um meinen Eltern bei dem geringen Arbeitsverdienst meines Vaters keine unnötigen Kosten zu verursachen. Unvergesslich ist mir der Weihnachtsabend 1903, den ich mit meinen nicht auf Urlaub gefahrenen Kameraden auf einer Mannschaftsstube feierte. Ich feierte zum ersten Male Weihnachten in der Fremde. Es war eine Weihnacht, wie ich sie bis dahin nicht kannte. Der Sylvesterabend wurde, wie überall, auch bei uns gefeiert, doch nicht so laut und ausgelassen wie im Zivilleben üblich. Wir bekamen ab 9 (21) Uhr unsern nicht allzu starken Sylvesterpunsch, sangen wohl auch ein Lied und traten um 12 Uhr nachts - auch die Daheimgebliebenen der anderen drei Kompanien - vor den einzelnen Kompaniegebäuden an, riefen uns gegenseitig ein „Prosit Neujahr“ zu und sangen dann gemeinsam den „Choral von Leuthen, 5.12.1757“, „Nun danket alle Gott“. Dann hieß es „Schlafen gehen“! Das Jahr 1904 war angebrochen.

Am 1. April 1904 fuhren die Kameraden des älteren Jahrgangs - 1902/04 zu ihrem Regiment, das sie sich ausgesucht hatten. Soweit ihren Wünschen nicht entsprochen worden war, kamen sie zum 15. und 16. Armeekorps, Elsass-Lothringen. Dort war immer Bedarf. Ich gehörte nun zum „Älteren Jahrgang“. Neue Rekruten rückten ein. Der Dienst ging wie üblich weiter. Im Sommer 1904 machte sich zum ersten Male mein Beinleiden (Krampfadergeschwüre) bemerkbar. Ich kam ins Lazarett, wurde nach einigen Wochen als gesund und dienstfähig entlassen und ging im Herbst mit meinem Jahrgang ins Manöver, aus dem ich mit kranken Beinen zurückkam. Längere Lazarettaufnahmen wechselten mit kürzerer Dienstfähigkeit. Weihnachten 1904 verbrachte ich im Lazarett. Durch die wiederholten Erkrankungen kam ich im Dienst zurück. An ein Ausscheiden zum Regiment am 1. 4. 1905 war nicht zu denken. Als meine Kameraden, mit denen ich teilweise vier Jahre zusammen gewesen war, an diesem Tage zu ihrem Truppenteil fuhren, blieb ich allein zurück. Mittags wurde ich dem Kommandeur vorgestellt, der mich zum etatmäßigen Gefreiten ernannte, außeretatmäßig war ich es seit dem 27. Januar 1905 - ich lag damals im Lazarett - und mir eröffnete, dass ich unter den ob­waltenden Verhältnissen noch bis zum Herbst auf der Schule bleiben müsse. Als Trost fügte er hinzu: „Führen Sie sich weiterhin gut. Ich werde dann dafür sorgen, dass Sie als Unteroffizier ausscheiden und nach Möglichkeit zu dem Truppenteil kommen, den Sie sich wünschen“. Ein Trostpflaster! Aus alledem wurde nichts. Ich erkrankte erneut, kam wieder ins Lazarett, aus dem ich Ende Juni 1905, notdürftig geheilt, als Halbinvalide mit sechs Mark Militärrente monatlich, nach Pries bei Friedrichsort, wo meine Eltern seit Mai 1904 wohnten, entlassen wurde. Es fiel mir nicht leicht, nach Hause zu fahren. Auf der Heimreise am 30.6.1905 machte ich mir natürlich Gedanken über meine Zukunft, war mir aber auch darüber klar, dass ich nach den wiederholten Erkrankungen wohl doch kein guter Soldat, soweit der praktische Dienst infrage kam geworden wäre. Ein Neuanfang musste gemacht werden. Viele Jahre später las ich in Fritz Reuters Werk „Ut mine Festungstid“, als er nach siebenjähriger Festungshaft von der kleinen preußischen Festung Dömitz/Elbe seiner Vaterstadt Stavenhagen zuwanderte sich die Frage vorlegte: „War was ik? War kunn ik? Wat wöß ik? Nicks“. Hätte ich Ende Juni 1905 diese Worte schon gekannt, hätte ich sie auch auf mich anwenden können. Es widerstrebte mich, irgendwo als ungelernter Handarbeiter unterzuschlüpfen. Das hätte ich auch 1901 haben können. Nach kaum einwöchigem Aufenthalt im Elternhaus ging ich kurz entschlossen nach Kiel und dort zur öffentlichen Schreibstube in der Muhliusstraße, von der ich gehört hatte, dass sie Bürokräfte beschäftigte und auch in Bürostellen vermittle. Ich hatte Glück. Am 7.7.1905 wurde von der damaligen Meierei „Schweizertal“ in Suchsdorf am Aufweg zur Levensauer Hochbrücke, ein junger Mann für einfache Kontorarbeiten gesucht. Ich wurde hingeschickt und angenommen. Meine Arbeitsstelle war ein Großbetrieb mit Meierei, Bäckerei, Schweinemästerei (ca. 1.000 Schweine auf dem Stall), Schlachterei und Landwirtschaft. Mein Arbeitsverdienst: Zwei Mark täglich bar, auch sonntags, weil an diesem Tage auch mittags beansprucht, daneben freie Kost, eine wirklich gute Kost, von morgens bis abends. Dass ich in Kiel wohnte und morgens und abends eine gute Stunde Fußmarsch zu leisten hatte, morgens um etwa 7 Uhr das Haus verließ und abends gegen 8 Uhr zurückkehrte, kümmerte mich nicht. Ich war jung, 19 Jahre alt und war froh, dass ich Arbeit hatte. Vom 1. September ab wurde ich in das Angestelltenverhältnis übernommen, wohnte auch im Betrieb,  musste allerdings meine Unterkunft mit einem anderen Angestellten teilen und erhielt eine Monatsvergütung von 40,— M. Dazu die Kost. Leider dauerte die Freude nicht lange. Am 1.11.1905 wurde über das Vermögen der Molkerei „Schweizertal“ der Konkurs verhängt. Das Personal wurde größtenteils entlassen. Ich blieb noch bis Mitte November, ging zurück nach Kiel und suchte wieder die öffentliche Schreibstube auf, die aber nur wenig Arbeit bieten konnte. Kurz vor Weihnachten erhielt ich eine Aushilfsbeschäftigung in einem Baugeschäft am Knooper Weg, fand einen sehr gütigen Arbeitgeber, der mir am Weihnachtsabend, obgleich ich dort erst acht Tage arbeitete, eine halbe Kiste Zigarren überreichte, womit ich nicht gerechnet hatte. Zu meiner Überraschung lag unter dem Kistendeckel ein Fünfmarkschein. Ein schönes Weihnachtsgeschenk! Anfang Januar 1906 war meine Aushilfsarbeit zu Ende. Fünfundzwanzig Jahre später, etwa 1930, ging es mit der deutschen Wirtschaft rasend bergab. Ein Betrieb nach dem andern kam zum Erliegen, auch das Baugeschäft, in dem ich Weihnachten 1905 beschäftigt war. Ich war seit dem 1.7.1907 im Dienste der Stadt Kiel und seit dem 1.5.1929 Leiter des Kreisamts Mitte im städtischen Fürsorgeamt. Eines Tages erschien mein wohlwollender Arbeitgeber von Ende 1905 im Kreisamt und beantragte Fürsorgeunterstützung. Er war durch die rasende Wirtschaftskrise vollkommen mittellos geworden. Kummer und Sorgen hatten dem großen stattlichen Manne, der so oft in Not geratenen Mitbürgern Helfer gewesen war, den Nacken gebeugt. Ich war erschüttert und half, soweit ich es mit meinem Dienst und Gewissen vereinbaren konnte und war froh dass er mich nach so langer Zeit nicht wieder erkannte. Kurze Zeit später war er nicht mehr.

Januar/Februar sind bekanntlich bei uns die härtesten Wintermonate. Das habe ich Anfang 1906 ganz besonders gespürt. Ich war arbeitslos. Am 12.2.1906 wurde ich von dem Leiter der öffentlichen Schreibstube zum Statistischen Amt der Stadt Kiel, Ecke/Lorentzendamm/Bergstraße, geschickt (heute steht dort die Kieler Spar- und Leihkasse), um als Hilfsarbeiter bei der Wohnungszählung eingestellt zu werden. Es glückte. Diese Einstellung war für mich ein großes, ich darf wohl sagen, das größte Geburtstagsgeschenk meines Lebens. Ich wurde an diesem Tage 20 Jahre alt und bin seitdem nie wieder beschäftigungslos gewesen. Als Vergütung erhielt ich drei Mark täglich (Dalerschriever!), wovon während der ersten vier Wochen 10 Prozent täglich als Vermittlungsgebühr für die öffentliche Schreibstube einbehalten wurden. Damit musste ich mich abfinden. Ich hatte Beschäftigung und konnte mich satt essen. Daran hatte es seit Jahresbeginn manchmal gemangelt. Gegen Jahresende 1906 neigte die Arbeit beim Statistischen Amt sich ihrem Ende zu. Der größte Teil der Hilfskräfte musste mit Entlassung rechnen. Ich war zuletzt eingestellt worden und musste als Erster zur Entlassung kommen. Dem musste ich vorbeugen. Der Winter stand bevor. Von privater Seite wurde ich auf eine Stellung als Diener bei dem Admiral a. D. Thomsen aufmerksam gemacht. Ich stellte mich bei dem Herrn vor und wurde zum 1. Dezember 1906 angenommen. Die Annahme dieser Stelle gereichte mir für mein ganzes Leben zum Segen. Ich darf wohl kurz erwähnen, dass mein neuer Dienstherr, der aus der alten Kaiserlichen Marine kam, Schöpfer der Marine-Artillerie war und sein Haus, das er sich nach seiner Verabschiedung aus dem Marinedienst gebaut hatte, nach der Göttin der Artillerie „Villa Barbara“ nannte. Er stammte aus Wesselburen, wo sein Vater Etatsrat gewesen war.

Da ich den ganzen Tag auf den Beinen war, stellte sich im Sommer 1907 mein altes Beinleiden wieder ein. Ich begab mich in Behandlung der Universitäts-Hautklinik. Dort wurde mir teilweise sitzende Beschäftigung empfohlen. Ich machte meinen Dienstherren hiervon Mitteilung, der meinen Fortgang bedauerte, mir aber auch sagte, dass ich nicht eher wegkäme, bevor ich nicht eine neue Stellung hätte. Ich versuchte, durch Empfehlung des Admirals als Lohnschreiber auf der Kaiserlichen Werft unterzukommen. Der Oberwerftdirektor bedauerte jedoch, für mich nichts tun zu können, da ich wegen meines Beinleidens kaum für dienstfähig befunden würde. Außerdem wäre fraglich, dass ich bei meiner Vorbildung die von den Lohnschreibern vor der Einstellung abzulegende Prüfung bestehen würde. Ich erhielt nun einen Empfehlungsbrief an den Personaldezernenten der Kieler Stadt­verwaltung, Stadtrat Dr. Thode, Neffe des Admirals, der außerordentlich bedauerte, im Augenblick nichts für mich tun zu können, die Sache aber im Auge behalten und Nachricht geben würde. Das war Mitte August 1907. Am 30. August fragte der Dienststellenleiter der Armenverwaltung (später Fürsorgeamt, heute Sozialamt) der Stadt Kiel fernmündlich an, ob ich bereit wäre, die Stelle eines Hilfsarbeiters in der Armenverwaltung anzunehmen und ob ich am Montag, dem 2. September meinen Dienst antreten könnte. Nach kurzer Rückfrage hei meinem Dienstherrn antwortete ich, dass ich am Montagmorgen meinen Dienst antreten würde. Am 2. September, morgens 8 Uhr, meldete ich mich bei dein Bürovorsteher der Armenverwaltung, Stadtsekretär Miethke, und begann damit meine 43 1/2 jährige Dienst­zeit in der Stadtverwaltung Kiel, die am 28. Febr. 1951 infolge Erreichung der Altersgrenze endete. Meine Dienstvergütung betrug zunächst 3,50 M täglich. Mein Ab­teilungsleiter war Stadtsekretär Georg Müller, ein mir wohlwollender Vorgesetzter. Auch er war ehemaliger Annaburger, d.h., er war vom 10. bis 14. Lebensjahr Zögling des Militär-Knaben-Erziehungs-Instituts in Annaburg gewesen. Nach seiner Konfirmation war er bei der Stadtverwaltung Kiel als Verwaltungslehrling ange­fangen, weil er körperlich zu schwach war, Zögling einer Unteroffiziersvorschule oder Schiffsjunge der Kaiserlichen Marine zu werden. Am 1. April 1908 wurde mir eine Stelle als ständiger Hilfsschreiber übertragen und ich war damit in einer gesicherten Stellung mit monatlicher Kündigung, die nur beim Vorliegen eines wichtigen Grundes ausgesprochen werden konnte. Meine Dienstvergütung betrug monatlich 95,- M brutto. Endlich konnte ich daran denken, etwas für meinen äußeren Menschen zu tun, obgleich man bei diesem Einkommen in damaliger Zeit auch noch keine großen Sprünge machen konnte.

Im Laufe der Zeit kam mir die Einsicht, dass ich nicht immer als ständiger Hilfsschreiber herumlaufen dürfe, sondern bemüht sein müsse, weiterzukommen, Beamter zu werden. Was andere leisteten, traute ich auch mir zu und bewarb mich um Zulassung zur Büro- und Kassenassistenten-Laufbahn (mittlerer Dienst), er­hielt aber ablehnenden Bescheid. Ab Herbst 1911 arbeitete ich im Steueramt und ab Mai 1912 im Hauptamt. Hier erhielt ich meinen Arbeitsplatz im Vorzimmer des Oberbürgermeisters als Stenograph und Maschinenschreiber. An ein Weiterkommen war auch hier nicht zu denken. Aus den ständigen Hilfsschreibern wurden städtische Büro- und Kassengehilfen, die auch eine Besoldungsordnung erhielten. Mein Monatseinkommen betrug 1912 115,- M. Ich war inzwischen 26 Jahre alt ge­worden und trug mich mit Heiratsgedanken. Am 14. Juni 1913 schloss ich mit Margareta geb. Krautwurm die Ehe. Auf die Dauer war unser Einkommen - 112,- M Dienstvergütung und 6,75 M Militärrente = 118,75 M, zu klein. Aussicht auf Besserstellung in der Kieler Verwaltung bestand nicht, da ab 1. April 1913 die Verwaltungsbeamtenschule des Schleswig-Holsteinischen Städtevereins mit dem Sitz in Kiel eingerichtet wurde und die bis dahin üblichen Lehrgänge des Kieler Magistrats während der Dienststunden in Fortfall kamen. Ich konnte zwar für den Schulbesuch beurlaubt werden, die Dienstvergütung wurde während dieser Zeit (6 Monate) nicht weitergezahlt.

Das Schicksal fügte auch jetzt alles zum Besseren. Durch Vermittlung des Leiters des Personalamtes der Stadt Kiel wurde ich ab 1. November 1913 vom Amtsvorsteher in Neumühlen-Dietrichsdorf als Polizei-Sergeant eingestellt und wurde Beamter. Mein Anfangsgehalt betrug 1.800 M jährlich, zuzüglich eines Kleidergeldes von 150 M jährlich. Ich gestehe, gern zog ich die Polizeiuniform nicht an. Ich hatte aber monatlich 36,- M Mehreinkommen. Auch bestand Aussicht auf ein Weiter­kommen. Diese Anstellung bedingte einen Wohnungswechsel von Kiel nach Neumühlen-Dietrichsdorf. Hier wurden am 10. Juni 1914 unsere Kinder Harro und Marianne (Zwillinge) geboren. Sieben Wochen später brach der 1. Weltkrieg aus. Der Kriegszustand wurde bereits am 31. Juli erklärt. Den damals geltenden Vorschriften entsprechend erschien gegen Abend im Ort ein Offizier, bereits in Felduniform, in Begleitung eines Hornisten, der ein Signal blies, worauf der Offizier den von Allerhöchster Stelle proklamierten Kriegszustand verlas. Bereits am nächsten Tage erfolgte die Mobilmachung. Beide Bekanntmachungen wurden an zahlreichen Stellen im Ort an die Mauern geklebt. Das war meine Aufgabe. Nicht nur am 31. Juli, sondern in den ersten Kriegswochen fast täglich, in der ersten Woche sogar morgens und abends. Nebenher versah ich meinen Dienst, soweit in die Zuständigkeit des Amtsvorstehers fallend. Mein Kollege musste sich schon am 31. Juli bei der 1. Matrosen-Division in Kiel zum Dienst melden. Vor seiner Anstellung in Neumühlen-Dietrichsdorf am 1.5.1913 hatte er 12 Jahre bei der Marine gedient, zuletzt als Oberfeuerwerks-Maat. Ich gehörte laut Landsturmschein vom 23.7.1908 dem „Landsturm mit der Waffe“ an. Nach Vollendung des 20. Le­bensjahres war ich dreimal zur Musterung. Einige Tage nach der Mobilmachung wurde der Landsturm aufgerufen. Es handelte sich um gediente Leute, die vom aktiven Dienst zur Reserve entlassen, zur Landwehr 1. und 2. Aufgebots überführt und mit 39 Jahren dem Landsturm überwiesen waren und diesem bis zur Vollendung des 45. Lebensjahres angehörten. Da ich nach meiner Meinung als voll ausgebildeter Soldat galt, ging ich am Musterungstage in das Musterungslokal, die „Reichshallen“ in Kiel. Als alle aufgerufen waren, stand ich allein im großen Saal und wurde ohne weitere Erläuterung nach Hause geschickt. und verhielt mich abwartend. Während der langen Kriegsdauer bin ich wiederholt zur Musterung beordert worden, zuletzt im Mai 1918, war zuerst garnisionsdienstfähig und ab Mai 1918 arbeitsverwendungsfähig im Beruf. Unsere Kinder waren bei Kriegs­ausbruch 51 Tage alt. Meine Frau war glücklich, wie wohl jede Frau in ihrer Lage, dass sie mich zu Hause behielt. Sie hat sich tapfer durch die knappen Kriegsjahre und die ebenso turbulente Nachkriegszeit hindurch gekämpft, nicht nur im 1., sondern auch im 2. Weltkriege, abgesehen davon, dass die Versorgung der Zivilbevölkerung im 2. besser organisiert war als im 1.

Es soll nicht meine Aufgabe sein, hier über die Geschehnisse während des 1. Weltkrieges in der damaligen Landgemeinde Neumühlen-Dietrichsdorf zu berichten. Ich war zwar kein Kriegsteilnehmer, nehme aber für mich in Anspruch, in der Heimat meine Pflicht, oftmals mehr als meine Pflicht getan zu haben, mehr als mancher Etappensoldat. Ich war von früh bis spät im Dienst.
Es wurden täglich Überstunden geleistet, die nicht bezahlt wurden. Aber die Mehrarbeit hat sich gelohnt. Neben meinen Obliegenheiten im Polizeidienst wurde ich zu kriegswirtschaftlichen Aufgaben herangezogen und hatte ins­besondere die Verwaltung der Lebensmittellager. Oktober 1916 wurde ich aus dem Polizeidienst genommen und als Büroassistent in der Gemeindeverwaltung angestellt, womit auch eine gehaltliche Aufbesserung verbunden war.

Die unmittelbar nach Kriegsende beginnende Geldentwertung traf die Lohn- und Gehaltsempfänger besonders schwer. Daran änderten auch die sog. Teuerungszulagen nichts. Wenn die prozentuale Erhöhung von den zuständigen Instanzen beschlossen war und das erhöhte Gehalt zur Auszahlung kam, waren die Preise längst davon gelaufen. Ab 1. Juli 1923 wurde die monatliche Auszahlung meiner kleinen Militärrente von 6,75 M eingestellt und dafür eine Abfindung von 720.000 M gewährt. Als der vermeintlich hohe Betrag zur Auszahlung kam, konnte ich mir dafür gerade noch einen Lodenmantel kaufen, der unter normalen Verhältnissen höchstens 40 Mark gekostet hätte. Oktober 1922 wurde die längst überfällige vierteljährliche Gehaltszahlung aufgehoben und die monatliche Zahlung angeordnet. Nicht lange danach ging man zur Halbmonatszahlung über und Ende 1923 wurde jeden 2. Tag Gehalt gezahlt. Mit der Einführung der Rentenmark hatten wir endlich stabile Verhältnisse, aber auch nur ein ganz geringes Einkommen. Es trat aber bald eine merkliche Aufbesserung ein.
Vom 1. Mai bis Ende Juli 1921 wurde mir Gelegenheit gegeben, einen drei­monatigen Lehrgang der Verwaltungsbeamtenschule des Schleswig-Holsteinischen Städtevereins zu besuchen und die 1. Verwaltungsprüfung nachzuholen, wie es bei der Übernahme in den Gemeindeverwaltungsdienst am 1. Oktober 1916 vorgesehen war. Vormittags ging ich zum Unterricht in Kiel und nachmittags machte ich meinen Dienst in der Amts- und Gemeindeverwaltung. Die Abschlussprüfung am 23/30. Juli bestand ich mit „gut“. Damit genügte ich auch den gesetzlichen Bestimmungen für die Anstellung als Gemeindesekretär, die ich ab 1. April 1921 erhielt. Anfang Juli 1924 wurde die Gemeinde Neumühlen-Dietrichsdorf mit Wirkung vom 1. Mai 1924 in den Stadtbezirk Kiel eingemeindet. Die Beamten und Angestellten der Gemeinde wurden nach Maßgabe ihrer bestehenden Besoldungs- und Anstellungsbedingungen in den Dienst der Stadt Kiel übernommen. Ich wurde Stadtobersekretär. Um von meinen Kollegen nicht als fünftes Rad am Wagen betrachtet zu werden, entschloss ich mich, die 2. Verwaltungsprüfung nachträglich abzulegen, die ich nach Teilnahme an einem zweijährigen Lehrgang (der Unterricht fand während der Dienststunden statt) vor der Prüfungskommission des Schleswig-Holsteinischen Städtevereins am 3. April 1929 mit der Prüfungsnote „fast gut“ bestand. Die dem Lehrgang vorausgegangene Vorprüfung, (dieser Lehrgang hatte drei Monate gedauert) hatte ich am 21. Januar 1927 mit der Note „gut“ abgeschlossen. Meine Beförderung zum Verwaltungsinspektor (Stadtinspektor) erfolgte noch vor der Abschlussprüfung des 2. Lehrgangs, am 1. April 1927. Sieben Jahre später, 1.4.1934, wurde ich Stadtoberinspektor und am 1. Januar 1942 Stadtamtmann. Die letzte Beförderung wurde verspätet ausgesprochen, weil das hierfür vorgesehene politische Unbedenklichkeitszeugnis des Gauleiters nicht rechtzeitig erteilt wurde. Diese Verspätung hatte ich dem Kreisleiter der N.S.D.A.P. zu verdanken, der dem Gauleiter berichtet hatte, „dass mein Wesen (Freundlichkeit) im Verkehr mit dem Publikum zu wünschen übrig lasse“.

Bei der Eingemeindung der Gemeinde Neumühlen-Dietrichsdorf in den Stadtbezirk Kiel wurde ich dem Fürsorgeamt überwiesen und hier als Sachbearbeiter beschäftigt. Ich war wieder dort gelandet, wo ich am 1. September 1907 meine Dienstlaufbahn als Hilfsschreiber begann. Oktober 1927 wurde ich zum städtischen Gesundheitsamt versetzt und erhielt hier die Abteilung „Gesundheitsbehörde“. Am 1. Mai 1929, gleich nach Bestehen der 2. Verwaltungsprüfung, wurde ich vom Gesundheitsamt wieder zum Fürsorgeamt als Leiter des Kreisamts Mitte versetzt. Diesem Amt wurden im 2. Weltkriege auch noch eine „Abteilung für Familienunterhalt“ angegliedert und die Kreisämter „West“ und „Nord“ zugeteilt. In dieser Stelle blieb ich bis Ende 1945. Am 1. Januar 1946 kam ich als Dienststellenleiter und Standesbeamter nach Kiel-Pries-Friedrichssort. Hier blieb ich bis zu meiner Versetzung in den Ruhestand am 28.2.1951. Diese Dienststelle war zwar keine Stadtamtmannsstelle, die Versetzung entsprach aber früher geäußerten Wünschen, weil ich hier meiner Heimat näher war. In Kiel-Pries habe ich, zusam­men mit meiner Frau, die schönsten Jahre meiner 43 1/2 jährigen Dienstzeit verbracht. Die Verwaltungsarbeit war einfach und drückte nicht. Neu war für mich die standesamtliche Tätigkeit. Die Grundzüge des Personenstandsgesetzes hatte ich im 2. Lehrgang kennen gelernt. Bis zu meiner Bestellung als Standesbeamter vergingen noch drei Wochen, während der ich Zeit hatte, die „Dienstanweisung für Standesbeamte“ zu studieren. Die standesamtliche Tätigkeit hat mir immer große Freude bereitet. Von Ende Januar 1946 bis Ende Februar 1951 habe ich ca. 750 Ehen geschlossen, davon etwa ein Drittel Ausländerehen.  Die Ehepartner: Esten, Letten, Littauer, Ukrainer, waren während des 2. Weltkrieges als Zwangsarbeiter nach Deutschland gekommen und in Industriebetrieben der Rüstungsindustrie in Kiel- Friedrichsort beschäftigt worden. Sie hatten nicht die Absicht, in ihre östliche Heimat zurückzukehren und wanderten aus, vornehmlich nach Kanada.

In der Nacht vom 26. zum 27. August 1944 wurde unsere Wohnung in Kiel- Neum.­Dietrichsdorf durch Brandbomben zerstört. Wir verloren fast unsere ganze Wohnungseinrichtung und waren froh, Anfang April 1946 in Kiel-Pries eine kleine Wohnung zu bekommen, die wir notdürftig einrichteten. Ein Jahr später erhielten wir in meinem Dienstgebäude Fritz-Reuter-Straße 87 eine nette Zweistubenwoh­nung, die ich erst Anfang Oktober 1968, aufgab, als ich zu meiner Tochter nach Minden-Meißen übersiedelte.

Im Herbst 1944 wurde ich mit vielen Kollegen aus der Stadtverwaltung zum Arbeitsdienst nach Dithmarschen beordert. Wir sollten dort Panzergräben ausheben, die die feindlichen Panzer am Vormarsch hindern sollten. Meines alten Beinleidens wegen konnte ich aber schon nach drei Tagen wieder nach Hause fahren und meinen Dienst im Rathause wieder aufnehmen. Der 6. Kriegswinter lag vor uns. Die Fliegerangriffe auf die Stadt Kiel nahmen an Härte zu. Alle vier Tage hatte ich Brandwache im Rathause. Von den vielen Luftangriffen auf Kiel sind die vom 12. Dezember 1943 in meiner Erinnerung geblieben. Das Verwaltungspersonal war in die vorgeschriebenen Schutzräume gegangen. Als der Angriff beendet war und die Schutzräume verlassen werden konnten, brannte das ganze Dach­geschoss des Rathauses. Die Kieler Berufsfeuerwehr und die von auswärts heran­gezogenen Feuerwehren standen einsatzbereit am Kleinen Kiel und warteten auf Einsatzbefehl. Welche Gründe gegen den Einsatz der Wehren bestanden, entzieht sich meiner Kenntnis. An eine Weiterarbeit war an diesem Tage nicht zu denken. Ich ging gegen drei Uhr nachmittags mit einem Kollegen nach Hause. Den Dampfer, der uns nach Neumühlen bringen sollte, erreichten wir nur auf Umwegen. Der Angriff hatte sich anscheinend gegen die Innenstadt gerichtet, die vollständig in Rauch eingehüllt war. Missmutig strebten wir unserer Behausung zu. Es dauerte aber noch fünf Monate, bis Deutschland am Boden lag und der Krieg zu Ende ging.

Der Übergang vom Dienst in den Ruhestand ist mir nicht schwer geworden. Ich war seelisch darauf vorbereitet. Neben meinem Hausgarten hatte ich seit dem Frühjahr 1946 noch 600 qm Pachtland zu bearbeiten und war damit vollauf beschäftigt. Die Pacht gab ich 1951 aus gesundheitlichen Gründen auf und versuchte nun, der Erinnerung zu leben. Für ein Nichtstun war ich noch zu rüstig. Ich dachte auch wohl an Familienforschung, fand aber nicht den Anfang. Im August 1954 wurde ich durch einen alten Schulkameraden, Friedrich Sellmer, den ich auf der Goldenen Konfirmation im September 1952 in Dänischenhagen nach vielen Jahren wieder getroffen hatte, — er starb Ende März 1975 fast 91 Jahre alt — in Strande mit dem Vorsitzenden der Heimatgemeinschaft des Kreises Eckernförde, Detlef Thomsen, Damendorf, bekannt gemacht, der für die Verkartung der Kirchenbücher des Kreises Eckernförde Mitarbeiter suchte. Ich erklärte mich zur Mitarbeit bereit und übernahm die Verkartung der Kirchenbücher des Kirchspiels Dänischenhagen, die ich bis zum Jahre 1962 durchführte. In diesem Kirchspiel war ich geboren, getauft, aufgewachsen und konfirmiert worden. Soweit ich erinnere, fertigte ich ca. 21.000 Familienblätter und ca. 53.000 Tauf (Geburts-) und Sterbekarten. Später habe ich noch die Kirchenbücher des kleinen Kirchspiels Krusendorf verkartet und die Familienblätter des Trauregisters Gettorf für die Zeit 1692 bis 1893 geschrieben. Nebenbei habe ich Unterlagen über den größten Teil meiner Sippe (Baasch) sammeln können.

Nachzutragen habe ich noch den Verlauf der Goldenen Konfirmation in Dänischenhagen am 21. September 1952, die von Pastor Priebe, mit dem ich von 1954 bis zu seinem Heimgange am 2. Oktober 1972 bei der Kirchenbuchverkartung zusammen arbeitete und viel Unterstützung fand, an­geregt und durchgeführt wurde. Der Dank der alten Konfirmanden war bei dem Gottesdienst eine bis auf den letzten Platz gefüllte Kirche. Die Predigt stand unter dem Wort: „Bis hierher hat der Herr geholfen“. Treffender konnte das Wort für diesen Tag nicht gewählt werden. Es wurde den Zuhörern in einer zu Herzen gehenden Ansprache nahe gebracht. Von meinen ehemaligen Schulkameraden habe ich auf dieser Feier nur wenige getroffen. Pastor Priebe habe ich zum letzten Male im Juni 1972 besuchen können. Er war schon sehr leidend. Ich werde ihn nie vergessen und danke ihm für alle Hilfe, die ich bei der Kirchenbuchverkartung durch ihn erfuhr.

Die Ruhestandszeit, die soviel verheißend begonnen hatte, wurde getrübt durch die jahrelange Erkrankung meiner Frau (Diabetes), der sie nach einem Schlagan­fall am 13. Oktober 1961, fünf Tage vor ihrem 70. Geburtstage, am 9. Januar 1962 nach dreimonatigem Krankenhausaufenthalt erlag. Ihr ganzes Leben war Liebe und Fürsorge für ihre Familie.

Unsere am 10. Juni 1914 in Neumühlen-Dietrichsdorf (Kiel-Neumühlen-Dietrichdorf) geborenen Kinder Harro und Marianne wurden Ostern 1930 in der Kirche zu Schönkirchen konfirmiert. Unsere Tochter erlernte im „Heinrich-Kinder-Hospital“ -Universitäts-Kinderklinik in Kiel- den Beruf einer Kinderschwester. Sie arbeitete von 1936 bis 1943 im „Cäcilienstift“ in Bad Lippspringe. Dort lernte sie ihren Mann, den Volksschullehrer Wilhelm Hemeyer kennen, mit dem sie am 2. Januar 1943 die Ehe schloss. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, Wilhelm Hermann, geboren am 28. November 1943 in Delbrück, Kreis Paderborn und Annegret, geboren am 2. August 1951 in Minden. Hermann machte im Früh­jahr 1963 am Bessel-Gymnasium in Minden sein Abitur und studierte in Marburg. Sein Ziel war Studienrat. Er bestand sein Referendar- und Assessorexamen mit Auszeichnung und war nach 1 1/2 jähriger Referendarzeit drei Jahre Studienrat in Kassel, wo er am 14. März 1975 plötzlich und unerwartet einem Schlaganfall erlag. Er war seit Juli 1968 verheiratet mit Christa geb. Kuhlmann aus Kassel. Die Ehe blieb kinderlos.

Annegret besuchte das Karoline-von-Humboldt-Gymnasium in Minden bis zur mittleren Reife und erlernte den Beruf als Arzthelferin. Sie heiratete am 24. September 1975 in Hannover den Fernmeldetechniker Hans-Georg Färber. Der Vater von Hermann und Annegret starb nach jahrelangem Leiden am 9. Februar 1964 in Minden.
Unser Sohn Harro besuchte die Oberrealschule in Kiel- Wellingdorf, machte dort 1934 sein Abitur und war 1934/35 ein Jahr freiwillig im Reichsarbeitsdienst in Neumünster. Anschließend ging er als Inspektoranwärter zur Marine-Intendantur Kiel. Seine Ausbildungszeit wurde von Juli 1935 bis Frühjahr 1936 durch Ableistung seiner Wehrdienstzeit bei der Marine-Artillerie in Pillau unterbrochen. Während des 2. Weltkrieges war er als Intendantur-Inspektor bzw. Intendantur-­Oberinspektor in Norwegen. Zum Schluss des Krieges wurde er noch zum Wehrdienst einberufen, wurde in der Nähe von Königsberg verwundet, kam im April 1945 auf Umwegen nach Kiel und musste nach beendeter Lazarettbehandlung in Kiel- Wik in das Kriegsgefangenenlager in der Probstei gehen, aus dem er im August 1945 entlassen wurde. Mit der Beamtenlaufbahn in der Marine, die größtenteils aufgelöst wurde, war es vorbei. Auch er musste, wie sein Vater vor vierzig Jahren, von neuem beginnen. Nach vorübergehenden Beschäftigungen im Behördendienst, zuletzt bei der Gemeindeverwaltung in BordeshoIm, wurde er im Sommer 1952 zunächst als Angestellter bei der Landeshauptkasse Kiel eingestellt, dem bald die Übernahme in das Beamtenverhältnis als Regierungs-Inspektor folgte. Von der Landeshauptkasse wurde er als Regierungs-Oberinspektor zur Personalabteilung im Finanzministerium versetzt. Dort wurde er im Laufe der Zeit zum Amtsrat und Oberamtsrat befördert und war zuletzt büroleitender Beamter daselbst. Im April 1959 erkrankte er erstmalig an einem Herzinfarkt, der sich im Laufe der Jahre wiederholte und dem er am 11. Oktober 1975 durch einen Schlaganfall erlag. Er wurde 61 Jahre alt und war seit dem 6. August verheiratet mir Ruth Groth verw. Hinrichs. Kinder sind in dieser Ehe nicht.

Am 12. Februar feierte ich bei sehr guter Gesundheit meinen 90. Geburtstag. Ein reich gesegnetes Leben liegt hinter mir. Ich habe versucht, niederzuschreiben, wie es sich gestaltete.

Bei der Verkartung des Kirchenbuches Dänischenhagen 1638 bis 1938, das einst auf Befehl des Erbauers und Gouverneurs der 1632 angelegten Festung Christianspries, Axel U r u p, für Rechnung des Kirchspiels angeschafft wurde, kamen viele bekannte Namen vor, deren Träger mir ins Gedächtnis zurückgerufen wurden, manche mit ihren Eigenarten und Schwächen.

„Von jedem, der mir durch das Leben ging, blieb eine Spur an meiner Seele hangen. Doch bracht‘ ich auch ein Stäubchen mit von jedem Wege, den ich bin gegangen“.

Wie oft habe ich in den letzten Jahrzehnten dies kleine Verslein zitiert, habe auch oft hinzufügen können: „Was gewesen, kehrt nicht wieder, kehret nie zurück. Ging es aber leuchtend nieder, leuchtet‘s lange noch zurück“.

Dem Schicksal sei gedankt für alles Gute und Schöne, das das Leben mit bot. Auch das Leid musste sein!