HERRMANN BAASCH
„Neunzig Jahre“
Aufzeichnungen aus
meinem Leben
(Aus
dem Jahrbuch der Heimatgemeinschaft Eckernförde e.V., Jahrgang 34/1976)

+ Herrmann
Baasch
|
Nach Bd. 51 (5. 27 - 50) des Deutschen Geschlechterbuches,
„Chronik der Familie BAASCH in Hamburg“, ist die bodenständige Heimat des
Geschlechts „BAASCH“ der Landstrich zwischen Kiel und Eckernförde, in dem
noch heute der Name Baasch häufig ist, besonders in den Kirchspielen
Gettorf und Dänischenhagen, aber auch in der Stadt Kiel, wo der Name schon
Anfang des 17. Jahrhunderts genannt wird — Stamm A-Tischlerberuf — der
jüngere Stamm wird später in Hamburg genannt. Ein Zweig dieses Stammes
widmet sich dem Kaufmannsstande und wird als „Venezolanischer Zweig“
bezeichnet. Ein familiärer Zusammenhang mit den Kieler bzw. Hamburger
Familien Baasch und den nordwestlich von Kiel auf dem platten Lande,
besonders in Felm und Umgegend, hat bisher nicht nachgewiesen werden
können. Die Schreibweise des Namens BAASCH wechselte vom Anfang des 16.
Jahrhunderts -1504- bis Anfang des 18. Jahrhunderts zwischen Basike,
Basche, Basch, Bahsche, Baasche und Baasch (jetzige Schreibweise).Ein Marx
Basike aus Fellum - Felm -, Kirchspiel Gettorf, heiratete am 24. 10. 1638 in
Dänischenhagen Wipke (Croll(en) aus Sprenge, Gut Birkenmoor, Ksp.
Dänischenhagen. Nach der Eheschließung wird das junge Ehepaar im Ksp.
Dänischenhagen nicht mehr genannt. Es ist vermutlich an den Aufenthaltsort
des Mannes - Fellum - zurückgekehrt, wird aber im Kirchenbuch Gettorf nicht
mehr genannt. Die Kirchenbücher Gettorf liegen erst ab 1692 vor.
|
Meine Heimat ist der
„Dänischewohld“, eine kleine Halbinsel zwischen der Kieler und Eckernförder
Bucht. In der Mitte dieses Fleckchens Erde liegt mein Geburtsort Dehnhöft,
früher Tennhöft, Dähnhöft genannt. Hier erblickte ich am 12. Februar 1886,
nachts 2 Uhr, das Licht der Welt. Meine Eltern bewohnten damals eine kleine
Wohnung in der zum Gute Friedrichshof, einem früheren Meierhof des Gutes
Knoop, gehörenden Waldarbeiterkate „Hohenfidel“ am Wege nach Felm,
unmittelbar am Waldrand „Friedrichshofer Holz“, jetzt „Kalendorfer Holz“
genannt.
Meine Mutter erzählte mir
in späteren Jahren, dass es eine kalte Februarnacht war und die in
Dänischenhagen wohnende Hebamme Hamann es schwer hatte, durch den tief
verschneiten Weg Dehnhöft zu erreichen, um ihr in ihrer schweren Stunde
Beistand zu leisten. Drei Jahre später verzogen meine Eltern nach dem etwa
eine Stunde entfernten Dorf Scharnhagen. Ich habe mein Geburtshaus im Sommer
1936 von Kiel- Neumühlen- Dietrichsdorf aus, meinem damaligen Wohnort, zum
ersten Male aufgesucht. Es war, wie die Wohnungsinhaberin, Frau Rausch, mir
sagte, in den vergangenen fünfzig Jahren nur wenig verändert worden.
Stubenofen und Feuerherd waren erneuert, sonst war alles wie in der früheren
Zeit; selbst die einfache Schlafstubentür hatte noch die alte „Eisenklinke“.
Im Jahre 1937 machte ich mit meiner Dienststelle „Kreisamt Mitte des
städtischen Fürsorgeamtes“ einen Betriebsausflug in den Dänischen Wohld und
kam erneut durch meinen Geburtsort, wobei das folgende Foto entstand.
Im April 1948 habe ich
auf dem Hofplatz meines Geburtshauses die in dem angrenzenden Wald
„Kalendorfer Holz“ gerodeten Stubben gelagert. Das Stubbenroden war bei der
damaligen schmalen Kost und einem Alter von 62 Jahren keine leichte Arbeit,
besonders für einen Büromenschen.
Meine Eltern haben
zeitlebens schwer um ihre Existenz gerungen, besonders, solange wir Kinder
noch im Hause waren. Mein Vater, Friedrich Hinrich Baasch, geboren am 7. 1.
1858 im Gute Kaltenhof, gestorben am 25.12. 1943 im Anscharstift zu
Neumünster, wo er wegen der auf Kiel herrschenden Fliegerangriffe
untergebracht war, war ein stiller, bescheidener Mann, uns Kindern ein guter
Vater. Er kannte nur seine Arbeit und die Sorge für seine Familie. Nur selten
sah man ihn lächeln, wohl eine Folge des harten Lebenskampfes, der ihn nie
hat richtig froh werden lassen. Ich habe nie ein unflätiges Wort von ihm
gehört, wenn er auch sonst eine derbe Sprache redete, habe ihn auch nie
betrunken gesehen. Er trank nur morgens gleich nach dem Aufstehen und abends
bei der Heimkehr von der Arbeit einen kleinen „Schluck“, der der Gesundheit
diente, denn die Dreiviertelliterflasche musste 14 Tage reichen. Sie kostete
fünfundsechzig Pfennige. Der Arbeitsverdienst betrug bei einem 10-, später
9-stündigen Arbeitstag viele Jahre hindurch vierundzwanzig bis
sechsundzwanzig Mark vierzehntägig. Außerdem hatte Vater von 1889-1904 einen
täglichen Fußmarsch von Scharnhagen nach Friedrichsort zur Torpedo-Werkstatt
hin und zurück je 9 km 18 km zurückzulegen.
Meine Mutter, Caroline Christine Dorothea Baasch geb. Röpstorf, geboren
4. 4. 1861 in Lindhöft, Gut Noer, gestorben 1. 7. 1943 im Anschar-Krankenhaus
zu Kiel, Wohnung Kiel-Pries, infolge eines Unfalls (Fall von der
Kellertreppe, wobei sie sich einen Schädelbasisbruch zuzog), war trotz aller
Not und Drangsal des Lebens eine Frohnatur, mochte die Not auch noch so groß
sein, die nie den Mut verlor und mit gesundem, oftmals derben Humor durchs
Leben ging.
Sie war außerordentlich
anpassungsfähig und allen Tagesfragen gegenüber aufgeschlossen. Sie war,
sofern sie hatte, sehr gebefreudig. Ihren Enkelkindern gegenüber hatte sie,
wenn diese sie besuchten stets eine offene Hand. Wenn ich heute das Bild
meiner Mutter betrachte spricht aus ihrem gütig lächelnden Gesicht ein Leben
voll Not und Sorge. Die Sorge für des Leibes Nahrung und Notdurft der Familie hat zeitlebens auf ihren Schultern
geruht. Vater lieferte am Zahltag seinen kargen Verdienst bis auf ein paar
Pfennige für Tabak restlos ab. Der Mutter blieb es überlassen, die
Bedürfnisse der Familie von dem wenigen ihr zur Verfügung stehenden Geld zu
bestreiten. „Seh to, wie du dormit ferti wars“, hörte ich meinen Vater
manchmal sagen. Diese Worte klangen zwar gleichgültig, waren aber Ausdruck
der begreiflichen Unzufriedenheit mit den herrschenden wirtschaftlichen
Verhältnissen. Es kam oft vor,
dass am Tage vor der Lohnzahlung kein Pfennig mehr im Hause war, um ein Brot
für den nächsten Tag zu kaufen, damit Vater Frühstücks- und Mittagbrot zur
Arbeit mitbekommen konnte. Dann wurden beim Höker zehn Eier gegen ein Schwarzbrot zum Preise
von dreißig Pfennig eingetauscht. Das soll keine Klage sein, sondern nur ein Vergleich
mit der heutigen Wohlstandsgesellschaft. Nach mehr als fünf Jahrzehnten,
1951, sagte der nunmehr hoch betagte Höker zu mir, als wir uns nach langen
Jahren wieder sahen: "Wat weern din Öllern doch arm"!
Das wusste
ich, habe mich aber unserer früheren Armut nicht geschämt. Wir waren inzwischen
auch ein Stück vorangekommen. Seine Worte sollten auch nicht beleidigend
sein. Er hatte mir vor meiner
Schulentlassung bei der Berufswahl beratend zur Seite gestanden. Er
starb 1953 im 87. Lebensjahre. Die bis auf den letzten Platz vollbesetzte Kirche
in Dänischenhagen anlässlich der Trauerfeier bewies, dass es sich um einen
angesehenen Mann handelte.
Meine Großeltern
väterlicherseits, (vs) Hinrich Christian Baasch, geboren 2.1.1821 in Felm,
Ksp. Gettorf, gestorben 18.1.1891 im Gute Kaltenhof, und Anna Margaretha geb.
Kobarg, geboren 11.10.1821 in Felm, gestorben 6.11.1891 im Gute Kaltenhof,
habe ich kaum gekannt. Ich erinnere mich, dass ich sie einmal gesehen habe.
Mein Großvater war als Forstarbeiter im Forsthaus „Stodthagen (Thurenholm)?, Gut Kaltenhof, beschäftigt und hat uns einmal, als ich
noch nicht zur Schule ging, zu Weihnachten einen Tannenbaum gebracht.
Der Großeltern mütterlicherseits (ms) erinnere ich mich dagegen sehr
gut, besonders der Großmutter. Großvater Hinrich Röpstorf, geboren 4.2.1834
in Holtenau, ein kleiner, stiller Mann, der in jüngeren Jahren durch Fall vom
Erntewagen einen Beinbruch erlitten hatte - das Bein musste amputiert werden,
- starb am 12.1.1893 in Schilksee. Er war jahrelang arbeitsunfähig. Rente gab
es damals noch nicht. Die Folge war, dass Großmutter, Sophie R. geb. Mangels,
für den Haushalt sorgen musste und das Regiment führte. Sie war eine
resolute, schlagfertige Frau, die es in der Arbeit mir jedem aufnahm und
viele Jahre auf dem Gute Seekamp bei dem Hofbesitzer
Wilhelm Olde, Vater des Kunstmalers und Professors Hans Olde, beschäftigt
war. Sie war immer vergnügt, voll heißenden Humors, nahm auch ihrem
Arbeitgeber gegenüber kein Blatt vor den Mund. Als sie eines Tages ihrem
Herrn gegenüber eine scharfe Bemerkung machte, meinte dieser wohl gelaunt:
„Na, Sophie, weer dat ni meist‘n beeten hart?“, gab sie zur Antwort: „Hart
woll, Herr Olde, awer woar“! womit die Sache abgetan war. Ihrer kurzen
Schritte wegen wurde sie auch „Sophie mit de korten Hacken“ genannt. Schreiben
hatte sie nicht gelernt — geboren am 4. 8. 1839 in Lindhöft, Gut Noer. Erst
im hohen Alter, als sie eine kleine Altersrente bekam, gab sie die drei
Kreuze auf und lernte noch ihren Namen schreiben. Sie starb 1922 —Sterbetag
nicht bekannt — in Hamburg-Harburg, wo sie ihrem Schwiegersohne nach dem Tode
ihrer jüngsten Tochter Marie den Haushalt führte, im 83. Lebensjahre.
Meine weiteren Vorfahren vs. waren Hufner und
Hufenpächter im Gute Kaltenhof, wo sie seit 1707 auf der „Karksbuernstelle“
in Felm amtlich nachgewiesen werden. — s. Blatt 40 - 42 — Sie waren dort
schon bedeutend früher ansässig, aber die Kirchenbücher des Kirchspiels
Gettorf liegen erst ab 1692 vor. „Das Register der Contribution so angeordnet
bei gehabter Kirchenrechnungh Dinstags nach Galli (16. Oktober) 1636 und
kurtz für Weihenacht dem Kirchspiel angemeldet“ ist genannt in Felm (Velm)
unter neun Hufnern „Marks Basche und Johann Basche und ein Wurtsitter
Vornahme fehlt — Basche. Jetziger Besitzer der „Karksbuernstelle“ in Felm ist
Hermann Baasch bzw. sein Sohn Jürgen. Der Großvater von Hermann Baasch,
Jürgen Friedrich B. war ein Vetter meines Vaters.
Die Röpstorfsippe stammt
aus dem früheren adligen Gute Seekamp, bereits 1507
in der Gettorfer Kirchenrechnung nachgewiesen wird. Dor Marquard „Ropesdorpe“
aus Pries zwei Mark an die Gettorfer Kirchenkasse zurück. Die Röpstorfs
werden von 1638 ab (Beginn des Kirchenbuches Dänischenhagen) als Leibeigene
im Gute Seekamp, (Sehehorst, Sehekampf, einige Jahre vor 1575 vom Gute Knoop
abgeteilt, s. Vertrag der Gebrüder Rantzau vom Dreikönigstag 1575) in den
Dörfern Pries, Holtenau und Schilksee aufgeführt, haben also den Boden
Seekamps mit ihrem Schweiße gedüngt.
Die Witwe von Peter Christian Röpstorf — mein 3.
Urgroßvater, Sophie Maria Bülk, heiratete in 2. Ehe am 6. 4. 1781 Joachim
Hinrich Röpstorf aus Pries der damit Setzwirt wurde, bis der älteste Sohn von
Peter Christian, Paul Hinrich, die Stelle nach dem Tode seines Stiefvaters am
27.4.1797 übernahm, und sie einige Jahre später parzellenweise an Kieler
Händler und Kaufleute verkaufte. Er selbst wurde wieder Tagelöhner im Gute Seekamp. (Sozialer Abstieg!).
Sophia Maria Bülk, 3. Urgroßmutter ms. starb am
23.1.1823 in HoItenau, 88 Jahre alt. Das Sterberegister Dänischenhagen nennt
ein Alter von 99 Jahren. Das stimmt nicht. Ich habe sie auch nicht 1724
festgestellt, denn für die Zeit 1716-1726 (Pastor Königsmann) liegt kein
Taufregister vor. Sie ist laut Taufregister am 24.4.1735 in Holtenauh geboren
und war bei ihrem Tode 88 Jahre alt. Bei der Verkartung der Kirchenbücher
habe ich wiederholt festgestellt, dass der Kirchenbuchführer sich um 10 Jahre
verrechnet hatte. Ich erinnere, dass eine Abel Röpstorp im Sterberegister
Dänischenhagen mit einem Alter von 107 Jahren nachgewiesen wird. Ob das
angegebene Alter stimmt, erscheint mir sehr fraglich.
Sophie Maria Röpstorp
geb. B ü l k wurde vier Wochen nach ihrem Tode am 24.2.1823 in Dänischenhagen beigesetzt. Es war Winter. Die
engen Landstraßen waren wahrscheinlich zugeschneit und das Erdreich so hart
gefroren, dass Bestattungen nicht vorgenommen werden konnten.
Aber nun wieder zu meinen Eltern zurück. In der am
28. Oktober 1883 in Dänischenhagen geschlossenen Ehe wurden sieben Kinder
geboren, darunter zwei Zwillingspaare, alles Mädchen, die im 1. Lebensjahr
starben. Ich war das zweitälteste Kind. Mir vorauf ging meine Schwester
Elise, geboren am 2.12.1883 in Altenholz im früheren Knooper Armenhause, wo
meine Eltern nach ihrer Eheschließung zuerst Wohnung bekommen hatten. Mein
Vater war Tagelöhner auf dem zum Gute Knoop
gehörenden früheren Meierhofe Friedrichshof. Besitzer des Gutes Knoop war
seit 1869 Ingward Martin Clausen aus Hadersleben, gestorben 1902 auf Knoop,
bestattet auf dem Südfriedhof in Kiel. Cl. ging mit 20 Jahren als
kaufmännischer Angestellter nach St. Thoma/ Westindische Inseln, die damals
zu Dänemark gehörte, erwarb dort ein erhebliches Vermögen und ging nach
Monterey/ Mexiko, heiratete eine Mexikanerin, mit der er 15 Kinder hatte
(siehe den Aufsatz von Dr. Otto Achelis in diesem Jahrbuch 26/1968, Seite 86
bis 97 „Ingward Martin Clausen, ein Wohltäter seiner Vaterstadt Hardersleben“).
Am 30. 10. 1887 wurden meine Zwillingsschwestern Margaretha und Anna
geboren. Am 1. Mai 1889 verzogen meine Eltern von Dehnhöft nach Scharnhagen.
Beide Dörfer gehören zum Kirchspiel Dänischenhagen, eine knappe Wegstunde
voneinander entfernt. Wenn auch erst drei Jahre alt, erinnere ich mich dieses
Umzuges noch recht gut. Es ist meine erste Kindheitserinnerung. Der künftige
Vermieter meiner Eltern, Bauer Bredenbek, Scharnhagen, stellte für den Umzug
zwei Kastenwagen zur Verfügung. Auf dem ersten Wagen wurden die
Familie-Eltern und zwei Kinder, der geringe Hausrat und das einzige Stück
Vieh - eine Ziege, platziert Der zweite Wagen war überwiegend mit Brennholz
beladen. Der Wagen mit der Ziege blieb in meiner Erinnerung haften. Unsere
neue Wohnung war eine Räucherkate, eine frühere Landinstenwohnung, die, wie
der größte Teil des Dorfes Scharnhagen, zum adligen Gute Eckhof gehörte, das
bis Mitte des 18. Jahrhunderts ein Meierhof des adligen Gutes Bülck war. Das
Haus war in verkleinertem Maßstabe im Baustil eines niedersächsischen
Bauernhauses errichtet, d.h. rechts und links der Haustür bzw. der Lehmdiele
lagen die kleinen Stallungen und im hinteren Teil die Wohnung, zwei kleine
Stuben, die Küche mit offenem Feuerherd und eine kleine Kammer. Die Wohnstube
hatte Bretterfußboden, der mit weißem Sand bestreut wurde. In diesem Hause
haben meine Eltern viele Sorgen gehabt. Vater hatte zwar das Glück, bald nach
dem Wohnungswechsel in der im Aufbau begriffenen Kaiserlichen
Torpedo-Werkstatt in Friedrichsort 9 km vom Hause entfernt, eine
Dauerbeschäftigung zu bekommen, musste diese aber bald wieder aufgeben, weil
er nach dem Mietvertrag verpflichtet war, für seinen Vermieter Bredenbek auf
dessen Torfmoor bei Scharnhagen den Haustorf zu backen. Die Torpedo-Werkstatt
lehnte es ab, Vater für die Dauer der Torfbäckerei, etwa vier bis fünf
Wochen, zu beurlauben. Der Vermieter bestand auf Erfüllung des Mietvertrages
und Vater war gezwungen, seine Entlassung zu nehmen. Er musste bis November
auf Wiedereinstellung warten. Dadurch kamen die Eltern wirtschaftlich sehr
zurück. Der Bedarf an Arbeitskräften war damals sehr gering. Hier eine
weitere Kindheitserinnerung: Die schon erwähnte Ziege auf dem Umzugswagen sah
Mutterfreuden entgegen und brachte bald nach dem Umzug zwei Lämmer - leider
Böcke - zur Welt, auf die kein Wert gelegt wurde. Ich war aber sehr erfreut
und schmiedete in meiner Kinderphantasie große Pläne. Wenn die Lämmer erst
herangewachsen waren, wollte ich einen Wagen haben, die Böcke davor spannen
und mit diesem Gefährt im Dorfe herumkutschieren. Daraus wurde leider nichts.
Die neugeborenen Tiere lagen am nächsten Morgen tot im Stalle. Ich war sehr
enttäuscht, musste mich aber den von Vater geschaffenen Tatsachen beugen. Am
1. Mai 1890 mussten meine Eltern, wenn sie nicht noch weiter wirtschaftlich
zurückkommen wollten, erneut einen Wohnungswechsel vornehmen, erhielten zum
Glück im selben Dorfe am Wege nach Freidorf/Eckhof im „Harredder“
(Hirtenredder) eine passende Wohnung, in der am 19. Juni 1893 mein Bruder
Christian geboren wurde. Er starb am 11. Dezember 1961 in einer Klinik in
Kiel-Ellerbek. Er wohnte in Kiel- Gaarden, Alte Lübecker Chaussee 104.
Ostern 1892 hatte für mich der Ernst des Lebens begonnen. Ich kam zur
Schule. Wie der Anfang war, erinnere ich nicht mehr, ich meine aber, dass wir
sieben Jungs waren, die alle ihren Platz auf der ersten Bank, unmittelbar vor
dem Lehrer hatten. Die Schule lag in Freidorf, am Wege nach Alt Bülk, gut 10
Minuten vom Elternhause entfernt. Ich habe sie neun Jahre besucht, vier Jahre
die 2. Klasse (Elementarklasse) und fünf Jahre die 1. Klasse. Jede Klasse
hatte gut 70 Schulkinder. Die Lehrer hatten keine leichte Arbeit und
gebrauchten zur Aufrechterhaltung der Ordnung, besonders in der 2. Klasse,
„den Hasseln“ (Haselstock), der nach Bedarf aus dem der Schule gegenüber
liegenden Knick erneuert wurde. Mein erster Lehrer in der 2. Klasse war
Wilhelm Harms, Sohn eines Tischlermeisters in Stöcksee, Kreis Nienburg/Weser.
Er wurde von den Einheimischen der „Seminarist“ genannt, zum Unterschied von
dem Hauptlehrer Rohwedder, der „Autodidakt“ war. Lehrer Harms wurde im Herbst
1895 an die einklassige Schule in Haby, Kreis Eckernförde, versetzt. Sein
Nachfolger in Freidorf war der Schulamtskandidat Detlef Klein, Sohn eines
Fischermeisters in Ellerbek (Kiel-Ellerbek). Ostern 1896 kam ich in die 1.
Klasse zu Hauptlehrer Rohwedder, der am 1. April 1898 in den Ruhestand trat.
Da kein Nachfolger für ihn gefunden wurde, unterrichtete er bis Ende Juni
noch einige Stunden wöchentlich und erhielt für die Unterrichtsstunde ganze
0,75 Mark. Am 1. Juli verzog er nach Burg/Dithmarschen, wo er am 4. April 1900
starb, 66 Jahre alt. Bis Ostern 1899 wurde die 1. Lehrerstelle von dem Schulamtskandidaten Schmidt verwaltet.
Dann wurde sie endgültig mit dem bisherigen 2. Lehrer in Dänischenhagen,
Matthäus Kollbaum, besetzt, von dem ich Ostern 1901 mit einem guten Schulzeugnis
entlassen wurde.
Ich erinnere mich meiner alten, zweiklassigen Schule gern und habe ihr
und meinen Lehrern immer ein gutes Gedenken bewahrt. Als
Sechsundsiebzigjähriger schrieb ich einen Aufsatz über meine alte Schule:
„Die Schule in Freidorf und ihre Lehrer“, der in diesem Jahrbuch 20/1962
veröffentlicht wurde.
In der Nacht vom 11. zum 12. Februar 1894 herrschte in unserer ein sehr
starker Südweststurm, verbunden mit einem wüsten Schneetreiben, der viel
Schaden anrichtete, u. a. das Strohdach des in unserer unmittelbaren
Nachbarschaft liegenden großen Bauernhauses H a g e n buchstäblich
auseinander klappte, für uns Kinder ein selten schauriger Anblick. Sobald der
Winter beendet war, wurde mit dem Wiederaufbau begonnen, der von uns Jungs
mit großem Interesse verfolgt wurde. Vor allen Dingen konnten wir sehen, was
Zimmermannsarbeit war. Die langen Sparten wurden auf die Decke über den
Viehställen gelegt und nach Verbindung mit den Querbalken (Hahnbalken) in der
Spitze zusammengefügt und dann mit Leinen unter Mithilfe von Leitern Fach für
Fach aufgerichtet. Abends stand das Dach, durch die ersten Querlatten
miteinander verbunden. Nach wenigen Tagen rückte der Dachdecker an, der ein
sauberes Reetdach herstellte.
Acht Jahre alt, arbeitete ich schon einige Tage im Mai/Juni auf dem
Gute Eckhof. Eine Anzahl Kinder mussten unter Aufsicht mehrerer Hoffrauen
Senf jäten. Der damalige Besitzer von Eckhof, Theodor Brun von Neergaard, war
einer der ersten Gutsbesitzer im Dänischen Wohld, die sich dem Anbau von Futterrüben
zuwandten. Die Rübensaat wurde eingedrillt und mit ihr die Unkrautsaat,
besonders der „wilde Senf“, was zur Folge hatte, dass im Jahre nach dem
Rübenanbau die große Hofkoppel gelb von Senf war. Der Tagelohn für die Kinder
betrug sechzig Pfennig, für einen halben Tag also 30 Pfennig. ,,Kinnerhand is lich füllt“ lautet ein altes Sprichwort.
So dachte man auch wohl auf Eckhof. Von meinem 10. bis 12. Lebensjahre
arbeitete ich in meiner schulfreien Zeit und in den Sommerferien (August) bei
dem schon genannten Bauern Hagen, sofern meine geringe Arbeitskraft benötigt
wurde. Außer der Kost, oftmals nur Vesper und Abendbrot erhielt ich als
Zehnjähriger nach Beendigung der Ernte für das Sommerhalbjahr ganze vier
Mark, im nächsten Jahre doch schon zwölf Mark Barlohn ausgehändigt. Für diese
12 Mark kaufte meine Mutter mir im Herbst 1897 den ersten selbstverdienten
Sonntagsanzug „von der Stange“. Durch diesen Einkauf kam ich zum Male nach
Kiel. Für den Weg dorthin benötigte man ca. zweieinhalb Stunden. Ich weiß
heute nicht mehr, welchen Eindruck die große Stadt damals auf mit gemacht
hat, ich erinnere aber, dass es ein nebliger, nieseliger Novembertag war.
Kiel hatte damals schon fast 100 000 Einwohner.
Ab Ostern 1898 wurde ich mit Rücksicht auf die schwierige wirtschaftliche
Lage meiner Eltern für das Sommerhalbjahr vom Schulunterricht dispensiert,
damit ich durch meiner Hände Arbeit zum Unterhalt
der Familie beitragen konnte. Ich ging nur zweimal in der Woche einen
Vormittag zur Schule. Für die Zeit von Ostern bis Michaeli (Herbst) wurde ich
zu dem Bauern Hagen, bei dem ich schon zwei Sommer gearbeitet hatte, als
Dienstjunge vermietet. Neben Kost und Unterkunft sollte ich für das halbe
Jahr 10 Taler = 30 Mark Barlohn erhalten. Schon eine Woche nach Ostern war meine
Tätigkeit als Dienstjunge beendet. Ich konnte „Mutters Schornstein nicht mehr
rauchen sehn“ und bekam Heimweh. Nach einem Besuch im Elternhause am Sonntag
nach Ostern ließ ich mich bei meinem Dienstherrn nicht wieder sehn, was er
auch nie übel genommen hat. Er hat mich auch nie gefragt, warum ich nicht
wieder zu ihm kam. Meine wenigen Habseligkeiten holte ich einige Tage später
heimlich aus meiner Kammer nach Hause. Die Aufgabe der Dienstjungenstelle
bedeutete aber nicht, dass ich zu Hause herumfaulenzen durfte. Ich nahm
unverzüglich Arbeit als Hofjunge auf dem Gute Eckhof an und verdiente dort
täglich 0,80 M, in der Ernte beim Garbenbinden 1,-- M, weil die Hofjungen
dann dieselbe Arbeit leisteten wie die Hoffrauen. Im letzten Schuljahre
arbeitete ich auf dem Gute Neubülk. Vom
Schulunterricht war ich jedoch nicht befreit.
Die Eltern hatten im Frühjahr 1895 erneut einen Wohnungswechsel
vornehmen müssen und wohnten wieder in einer ehemaligen Landinstenkate des
Gutes Eckhof, deren Besitzer der Höker und Landmann Johannes Misfeld war, der
in ihr zwei kleine Wohnungen eingerichtet hatte. Die Diele in der Mitte des
Hauses und der Boden wurden von ihnen zur Unterbringung der Ernte von dem von
ihm bebauten Acker, etwa 1 1/2 ha groß, genutzt. Die Kate, „Borndiek“ genannt,
lag auf halbem Wege zwischen Scharnagen und Freidorf. Sie ist nach 1904
abgebrannt und nicht wieder aufgebaut worden. Als meine Eltern am 1. Mai 1904
nach Pries verzogen (Kiel-Pries) wurde die Wohnung an den Dachdecker
Christian Baasch aus Surendorf vermietet, der, nachdem „Borndiek“ abgebrannt
war, ein Unterkommen in der von meinen Eltern 1889/90 bewohnten
Landinstenkate fand, deren Eigentümer inzwischen auch der Höker Johannes
Misfeld geworden war. Dachdecker Baasch hat später dieses bebaute Grundstück
von M. für 3 000 Mark gekauft. Das Grundstück ist heute noch im Besitz
seiner Nachkommen. Das Haus ist 1971 erneuert worden.
In „Borndiek“ wurde meinen Eltern am 16.9.1896 ein zweites
Zwillingspaar geboren, zwei Mädchen, die beide im März bzw. Mai 1897 starben.
Die Schulzeit war die schönste Zeit. Das merkte
ich besonders, wenn ich während der Sommerferien morgens um fünf Uhr, wenn
Vater das Haus verließ und sich zur Arbeit nach Friedrichsort begab,
aufstehen und mich zum Gute Eckhof bzw. Neubülk zur Arbeit auf den Weg machen
musste. Die Arbeit begann um sechs Uhr. Mittagspause war von 12 bis 1 1/2
Uhr, Feierabend um 6 1/2 Uhr, beim Einfahren oftmals um 8 Uhr. Dann war es
auch schon fast dunkel.
Der Schulunterricht fiel mir nicht schwer. Ich erinnere nicht, dass ich
fremder Hilfe bedurfte, die mir auch niemand geben konnte. In der schulfreien
Zeit hielt ich mich im Dorfe auf, sofern ich nicht zu häuslichen Arbeiten
herangezogen wurde. Ich ging oft heimlich vom Hause fort (ich rückte aus) und
erhielt dann beim Nachhausekommen, kurz vor dem Eintreffen meines Vaters von
der Arbeit, von meiner Mutter eine wohlverdiente Tracht Prügel. Ich war
zeitweise ein Rüpel, verübte manchen dummen Streich und habe meiner Mutter
Kummer und Sorgen bereitet, wovon der Vater oft nichts erfuhr. Der strengen
Zucht der Mutter verdanke ich es wohl, dass ich später doch noch ein
brauchbarer Mensch wurde. Von meinem Vater habe ich nie Schläge bekommen,
höchstens ein derbes Scheltwort. Er war auch nur nachts und sonntags zu Hause.
Trotz karger Kost und langer Arbeitszeit (Schmalhans war bei uns immer
Küchenmeister) ist er doch fast 86 Jahre alt geworden. Aber auch Mutter hat,
soweit die häuslichen und ihre gesundheitlichen Verhältnisse es zuließen,
durch ihrer Hände Arbeit bei einzelnen Bauern und
auf dem Gute Eckhof zum Unterhalt der Familie beigetragen. Trotz aller
Fährnisse des Lebens hatten die Eltern doch noch einen schönen Lebensabend.
Als sie am 1. Juli (Mutter) und am 25. Dezember 1943 (Vater) heimgingen, war
es wirklich ein erfülltes Leben!
Im Herbst 1900 begann für mich der
Konfirmandenunterricht, damit auch für meine Eltern die Sorge, was nach
Ostern 1901 aus mir werden sollte. Die wirtschaftlichen Verhältnisse meiner
Eltern gestatteten nicht, dass ich ein Handwerk erlernte. Sie waren bei ihrem
Einkommen nicht in der Lage, mich drei bis vier Jahre durchzuhalten. Das
Schicksal hatte aber ein Einsehen. Der Vermieter machte mich eines Tages, als
ich ihm bei der Landarbeit half, darauf aufmerksam, dass nach einer
Bekanntmachung im Kreisblatt die Möglichkeit bestände, eine
Unteroffizier-Vorschule und Unteroffizierschule zu besuchen, um als länger
dienender Soldat einmal Beamter zu werden. Das wäre etwas für mich. Dort
hätte ich eine gute Schulausbildung und vollkommen freien Unterhalt. Es
sollten am 1. April 1901 bei der Unteroffiziers-Vorschule (U-V) Annaburg bei
Wittenberg (Lutherstadt) noch Zöglinge eingestellt werden. Da ich mich für
den „bunten Rock“ interessierte, waren meine Eltern einverstanden. Im
November 1900 fuhr mein Vater mit mir zum Bezirkskommando in Schleswig, wo
ich auf körperliche Tauglichkeit untersucht und in den Elementarfächern
geprüft wurde. Ich genügte den Anforderungen und sollte weitere Nachricht
abwarten. Im Februar 1901 erhielt ich den Annahmeschein für die U.V. Annaburg
und die Aufforderung, mich am 16. April beim Bezirkskommando Schleswig zwecks
Einstellung einzufinden. Diese sollte am 17. April erfolgen.
Palmsonntag 1901 wurde ich in der Kirche zu
Dänischenhagen konfirmiert. Eine besondere Feier fand zu Hause nicht statt.
Nachmittags erschien mein Lehrer Kollbaum mit seiner Frau, um zu gratulieren.
Nach Einnahme einer Tasse Kaffee setzten sie ihren Gratulationsweg im Dorfe
fort. Den Beschluss machten sie bei dem Bauern Rathje, dessen Sohn Heinrich
neben mir die Schulbank gedrückt hatte, und nach Ostern zur
Präparandenanstalt Apenrade (Nordschleswig), ging, um seine Ausbildung als
Volksschullehrer aufzunehmen. Wir sahen uns nach der Konfirmation zum letzten
und (zum ersten Male) auf unserer Goldenen Konfirmation am 21. September 1952
in Dänischenhagen wieder. Nachdem haben wir noch einige Briefe gewechselt,
haben uns aber vollständig auseinander gelebt. Er ist am 15. Februar 1975 in
Burg/Dithmarschen im 90. Lebensjahre verstorben.
Nach der Konfirmation blieben mir noch vierzehn Tage bis zur Abreise
nach Annaburg, während der ich mich zur Entlastung meines Vaters mit
häuslichen Arbeiten beschäftigte. Viel Abschied brauchte ich nicht zu nehmen,
da ich keinerlei Bindungen (Freunde) hatte. Um am 16. April, 10 Uhr,
rechtzeitig beim Bezirkskommando in Schleswig zu sein, musste die Hinreise
schon am 15. April angetreten werden. Bald nach dem Mittagessen machte ich
mich in Begleitung meines Vaters mit einem kleinen Köfferchen, das die
wenigen mitzubringenden Sachen, wie Unterwäsche usw. enthielt, in der Hand
auf „den Weg ins Leben“. Von Scharnhagen nach Gettorf zu Fuß (etwa 2 1/2
Stunden), dann mit der Bahn über Süderbrarup nach Schleswig. In der Haustür
stand meine Mutter und sah mir tränenden Auges nach. Ihr letztes Wort: Gah
mit Gott, min Sühn“, habe ich nie vergessen. Ich sehe meine Mutter in ihrer
einfachen, ja, ärmlichen Kleidung noch heute vor mir.
Auf dem Bezirkskommando traf ich am nächsten Morgen mit mehreren jungen
Leuten zusammen, die auch zur Unteroffizier-Vorschule einberufen waren,
einige nach Greifenberg in Pommern, andere nach Weilburg/Lahn und
Neu-Breisach/ Baden. Darunter war auch ein Namensvetter Adolf Baasch aus
Gettorf, den ich nach zwei Jahren auf der Unteroffiziersschule Treptow/Rega -
1. Komp.- wieder traf. Dort geriet er „unter die Räder“. Er wurde wegen
Diebstahls mit drei Wochen strengem Arrest bestraft und nach Verbüßung der
Strafe „wegen moralischer Unbrauchbarkeit“ entlassen. Einige Jahre später, es
mag 1908 gewesen sein, hörte ich noch einmal in Kiel von ihm, als er wegen
sittlicher Verfehlungen polizeilich verfolgt wurde.
Wir wurden nochmals ärztlich untersucht, eingehend instruiert, mit
Reiseausweisen versehen und nachmittags vom Schleswiger Bahnhof aus in Marsch
gesetzt. Bei der Einstellung waren sechs Mark zur Beschaffung der ersten
Putzmittel abzuliefern, die vorsorglich dem Kommando der U.V. durch die Post
übersandt wurden. Bis Neumünster fuhr ich noch in Gesellschaft der nach
anderen U. Vorschulen einberufenen Kameraden, dann allein über Ratzeburg nach
Hagenow (Land). Dort machte ich im Wartesaal die Bekanntschaft von drei
jungen Leuten, die ebenfalls zur U.V. Annaburg einberufen waren: Martens, ein
Gastwirtssohn aus Heide/Holst., ein langer dürrer Mensch, der sehr vornehm
tat, Schulz und Rühmann aus Rendsburg, zwei einfache Burschen. Alle drei
verfügten anscheinend über reichliches Taschengeld, da sie dem kalten Büffet
der Bahnhofsgaststätte eifrig zusprachen. Ich hatte trotz der Geldknappheit
meiner Eltern drei Mark Taschengeld mitbekommen. Der Glasschrank mit den so
herrlich belegten Brötchen lockte auch mir die ersten Groschen aus der
Tasche. Solch schönen gekochten Schinken hatte ich noch nie gesehen,
geschweige denn gegessen. Dazu wurde selbstverständlich unter Führung des
branchekundigen Gastwirtssohnes ein großes Helles getrunken. Für die
Weiterreise wurde noch ein kleines Fläschchen Cognac — für mich etwas
Unbekanntes — gekauft. Jugendlicher Unverstand und Leichtsinn! Als wir in
Annaburg ankamen, hatte ich noch fünfundachtzig Pfennig in der Tasche! Unser
künftiges Taschengeld, das die U.V. zahlte, betrug monatlich 75 Pfennig,
wovon 25 Pfennig für Haarschneiden einbehalten wurden. Mit den restlichen 50
Pfennig konnten wir auch keine großen Sprünge machen, wir gebrauchten auch nichts,
da wir Unterkunft, Bekleidung und Verpflegung vom preußischen Staate bekamen
und unsere sonstigen Bedürfnisse sehr gering waren. Gegen 11 Uhr abends
fuhren wir nun zu vieren von Hagenow weiter über Wittenberge, Magdeburg,
Wittenberg (Lutherstadt), nach Annaburg, wo wir am 17. April nachmittags
gegen 15 Uhr eintrafen. Dort wurden wir von einigen Unteroffizieren unseres
künftigen Domizils militärisch in Empfang genommen und zur etwa 20 Minuten
entfernten Kaserne geführt. Aus den vier angebenden Zöglingen in Hagenow war
auf der weiten Strecke bis Annaburg ein großer Transport junger Leute
geworden. Der Bahnhof Annaburg lag ziemlich außerhalb des Ortes. Es herrschte
laues, nieseliges Frühlingswetter. Auf dem Wege zur Kaserne kamen wir an
einer Steingutfabrik vorbei, in der mehrere hundert Arbeiter und
Arbeiterinnen beschäftigt waren. Annaburg war um die Jahrhundertwende ein
kleiner, wenig einladender Ort, am Rande der „Lochauer Heide“ mit etwa 3 000
Einwohnern, umgeben von großen Kiefernwäldern. Der Ort machte einen kahlen,
unfreundlichen Eindruck. Die Bevölkerung bestand aus Ackerbürgern, kleinen
Gewerbetreibenden und Arbeitern, von denen viele im 130 km entfernten Berlin
als Bauarbeiter (Wochenendfahrer) beschäftigt waren. Der Ort führt seinen
Namen nach dem unserer Kaserne unmittelbar gegenüber liegenden
Schloss Annaburg, das Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen seiner
Gemahlin Anna errichtete. Kurfürst Friedrich der Weise war es, der 1521 den
Augustinermönch D. Martin Luther auf seiner Rückreise vom Reichstage zu Worms
nach Wittenberg im Thüringer Walde von Bewaffneten gefangen nehmen und zur
Wartburg bringen ließ.
1901 waren im Schloss Annaburg Zöglinge des
Militär-Knaben-Erziehungs-Instituts untergebracht. Das Institut wurde, wenn
ich recht erinnere, 1716, von dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm 1., Vater
des „Alten Fritz“, der auch das „Große Militär-Waisenhaus in Potsdam“ 1724
ins Leben rief, gegründet. Die U. Vorschule wurde 1881 errichtet, bestand
1901 also schon 20 Jahre. Heute gehört Annaburg zur DDR. Die Kaserne der
ehemaligen Vorschule ist mit russischem Militär belegt. Fotografieren der
Kaserne ist verboten. Das Schloss soll zu Wohnungen umgebaut sein.
Gleich nach dem Eintreffen in der Kaserne wurden wir Neulinge auf die
beiden Kompanien verteilt. Martens, Schulz und ich kamen zur 1. und in dieser
zur 1. Korporalschaft. Rühmann wurde der 2. Kompanie zugeteilt. Ich habe ihn
später nur selten gesehen, nach der Überweisung zur Unteroffizierschule, zwei
Jahre später, überhaupt nicht mehr. Unser Korporalschaftsführer war ein
älterer Sergeant, ein wirklich guter Vorgesetzter, der nach kurzer Zeit
infolge Beendigung seiner 12-jährigen Dienstzeit in den Zivildienst übertrat.
Wir sahen ihn ungern scheiden. Ihm folgte ein eben von der Truppe gekommener
Unteroffizier, ehemaliger Unteroffizier-Vorschüler und -schüler, ein
tüchtiger Soldat, der uns stets korrekt und gerecht behandelte. Nach der
Verteilung wurden wir auf unsere Stube geführt. Jeder musste sich sein
„Spind“ (Schrank) aussuchen, in dem er Essnapf mit Teller und Essbesteck und
ein Handtuch vorfand. Auf jedem Spind lag ein Schemel als „Stuhlersatz“. In
der Mitte der Stube standen drei Holztische mit abnehmbarer Holzplatte, die
umgedreht wurde, wenn wir untere Sachen putzten. Neben der Stubentür stand
ein einfacher Waschtisch, der nie benutzt wurde, auf dem zwei Wasserkrüge
standen. Auf dem Fußbrett des Waschtisches hatte die Fußbadewanne aus
Zinkblech ihren Platz, die auch nie benutzt wurde, aber ständig unter Glanz
gehalten werden musste und jeden Sonnabend beim Revierreinigen mit einer
Polierkette gewienert wurde. Über jedem Tisch hing eine Petroleumlampe, der
Schrecken der Stubendiensthabenden, die für hell brennende, blanke Lampen zu
sorgen hatten.
Wir hatten uns kaum in unserm neuen „Heim“ richtig umgesehen, als wir
uns in zwei Reihen auf unsere Schemel setzen mussten und den ersten
Unterricht über Verhalten in der Kaserne und Hinweise auf unsere
unmittelbaren Vorgesetzten (Offiziere) erhielten, deren Namen hier nicht mehr
interessieren. Die Verwaltung, sonst vom Zahlmeister und Unterzahlmeister
ausgeübt, wurde vom Rendanten (Zivilbeamter) wahrgenommen. Ihm war ein
älterer Unteroffizier als Schreibkraft beigegeben, der dadurch Gelegenheit
hatte, sich auf den Verwaltungsdienst vorzubereiten. Zu meiner Zeit war es
Sergeant Wichmann, der 1902 nach 12-jähriger Dienstzeit ausschied und eine
Anstellung im Zivildienst erhielt. Etwa 1910, ich war seit dem 1. September
1907 im Dienste der Stadt Kiel, fand ich in den Kieler Neueste Nachrichten
öfters kleine Artikel über die Sozialversicherung die
Reichsversicherungsordnung war im Entstehen — die mit „Wichmann“
unterzeichnet waren. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass der Schreiber dieser
Artikel der ehemalige Sergeant Wichmann in Annaburg war, der seit Jahren Beamter
der Stadt Kiel war. Er war bei der damaligen Polizeibehörde, der das
Versicherungsamt angegliedert war, beschäftigt, war also Experte auf dem
Gebiet der Sozialversicherung. Er war dort auch noch 1924 tätig, als ich
durch die Eingemeindung von Neumühlen- Dietrichsdorf wieder zur
Stadtverwaltung Kiel kam. Wir haben uns hin und wieder im Rathaus gesehen,
sind uns als ehemalige Annaburger aber nie näher gekommen. Ich vermute, dass
von seiner Seite ein gewisser Neid bestand, weil ich ihn, etwa 14 Jahre jünger
als er, im „Aufstieg“ überholt hatte. Er ging Mitte der zwanziger Jahre in
den Ruhestand und kehrte in seine Heimat, Seehausen i. d. Mark, zurück.
Nach dem halbstündigen Unterricht wurden wir in den „Souterrain“
(Keller) geführt und erhielten dort das erste Bad, allerdings nicht in einer
Badewanne, sondern in einem Holzbottich. Das Bad wurde uns vom Spieß in
höchsteigener Person durch Auf- und Zudrehen des Wasserhahns mit begleitenden
Befehlen verabfolgt. Nach kurzer Verschnaufpause auf unserer Stube wurde zum
Abendessen angetreten. Mit Essnapf und Löffel versehen zog nunmehr die ganze
Kompanie, ca. 125 junge Burschen, in den Speisesaal im Souterrain. Es gab
Brotsuppe und... teilweise lange Gesichter weil die Suppe nur mit Salz
gewürzt war. Wir haben uns jedoch sehr bald an diese Suppe, die es zweimal in
der Woche gab, gewöhnt und lernten, sie durch eine kleine Zuckerzutat
schmackhaft zu machen, sofern wir uns für 5 oder 10 Pfennig Zucker kaufen
konnten. Wir mussten uns auch daran gewöhnen, dass wir als Morgenkost in der
Woche fünfmal Mehlsuppe und einmal Brotsuppe erhielten. Nur am Sonntagmorgen
gab es einen mit Süßstoff angereicherten Kaffee. Unser Mittagessen war
reichlich, kräftig und schmackhaft. Es gab wohl hin und wieder Nörgler, von
mir aus muss ich aber bekennen, dass ich eine derart gute Kost nicht zu Hause
gehabt hatte. Im Übrigen erhielten wir täglich 750 Gramm Brot (Graubrot, kein
Kommissbrot) und 30 Gramm Butter, sonntags 40 Gramm. Am Sonntagabend gab es
für jeden zwei kleine Glas (Wasserglas)
Schultheis- Bier. Ab Herbst 1902 wurde die Abendkost
abwechslungsreicher (Grießsuppe in Magermilch, Wasserkakao, Pellkartoffeln
mit Salzhering usw.). Kurz vor 9 Uhr räumten wir, so gut wir es konnten,
unsere Stube auf und begaben uns mit unserem Waschzeug (Handtuch, Seife,
Waschlappen, Zahnbürste und Zahnputzpulver-Schlemmkreide) auf unsern
Schlafsaal. Zögling Martens war vom Korporalschaftsführer zum Stuben- und
Schlafsaalältesten bestimmt worden. Die einzelnen Dienstposten wie Stuben-,
Flur-, Schlafsaal- und Waschraumdienst, wurden erst am nächsten Tage
verteilt. Der Schlafsaalälteste ließ seine Schutzbefohlenen im Schlafsaal
antreten und erwartete mit ihnen den U.v.D. Bei seinem Erscheinen
kommandierte Martens auf dessen Aufforderung (hilflos) mit heller Mädchenstimme:
„Stille stehn?“ Der U.v.D. — es war der wohlbeleibte Sergeant Müller — nahm
seinen Helm ab und befahl: „Beten“! Erneute Hilflosigkeit beim
Schlafsaalältesten, der sich aber fasste und kurz entschlossen das „Vater
unser“ sprach, das wohl alle mitgebetet haben. Als Martens geendet hatte,
setzte der U.v.D. seinen Helm wieder auf und sagte zu Martens: „Morgen Abend
sprechen Sie das richtige Gebet. Ich habe es in den vergangenen 76 Jahren
nicht vergessen und lasse es hier folgen:
„Lieber Gott, kannst alles geben, gib auch was ich bitte nun: schütze
diese Nacht mein Leben, lass mich sanft und sicher ruhen. Sieh von dem Himmel
nieder, auf die lieben Eltern mein. Lass uns alle Morgen wieder fröhlich und
Dir dankbar sein“. Es wurde auch vor und nach dem Essen gebetet und gedankt,
was von uns 15 bis l7jährigen jungen Menschen als etwas Selbstverständliches
hingenommen, nie belächelt oder bespöttelt wurde. Wie ich im April 1975 von
einem 83jährigen alten Herrn, der Zögling des Großen Militär-Waisenhauses in
Potsdam war, hörte, wurde dort in gleicher Weise verfahren. Nach dem
Abendgebet mussten wir unser Waschzeug vorzeigen und dann unverzüglich
„Schlafengehen“. Jeder suchte sich schnell ein Feldbett mit fest gestopftem
Strohsack (Matratzen mit Krollhaarfüllung waren den Unteroffizieren
vorbehalten), Kopfpolster und drei Wolldecken im blau
und weißkariertem Bezug und begab sich schnellstens in die „Falle“.
Ich erinnere, dass ich morgens genau so lag, wie
ich mich abends hingelegt hatte. Während der Eisenbahnfahrt in der
vergangenen Nacht hatte ich überhaupt nicht geschlafen. Am 18. April begann
vom Wecken bis Zapfenstreich des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr. Die
Betten wurden gebaut, Stuben, Schlafsaal, Waschraum und Flur wurden
gereinigt. Nachdem alles in Ordnung gebracht war, nahmen wir die Morgensuppe
ein. Um 7 Uhr begann der Dienst.
Die Leserinnen und Leser dieser Niederschrift mögen mir meine
Langatmigkeit verzeihen. Es ist mein Lebensweg, den ich aufzeichne. 76 Jahre
nach meiner Schulentlassung ziehen an meinem geistigen Auge vorüber. Manches
erscheint belanglos, ist für mich aber eine schöne Erinnerung. Wenn der
Dienst in den vier Jahren auf der Unteroffizier-Vorschule und -schule auch
streng und hart war, war er für mich doch eine gute Erziehung, ja ich glaube,
dass ich während dieser Jahre die Grundlage für mein späteres Leben erhielt.
Es war preußische Erziehung, in der das Wort „Pflicht“ an erster Stelle
stand!
Nach wiederholter ärztlicher Untersuchung und der
ersten Einkleidung, die in den nächsten Tagen fortgesetzt wurde, begann die
Grundausbildung. Es wurde täglich eine Stunde geturnt, wöchentlich zwei
Stunden exerziert und im Sommer einmal wöchentlich Schwimmunterricht in der
etwa eine Stunde entfernten, mitten im Kiefernwald gelegenen Schwimmanstalt
erteilt. Das Schwimmbassin erhielt sein Wasser durch den „Neugraben“‚ ein
künstlich hergerichteter, etwa 2 Meter breiter Wasserlauf, der auch den Ort
Annaburg durchfloss. Woher er kam, wohin er floss, ist mir nicht bekannt. Die
Wände des ausgehobenen Bassins bestanden aus dicken Kieferstämmen.
Neben dem praktischen Dienst hatten wir wöchentlich einige Stunden
Unteroffizierdienstunterricht. Geschichts- und Geographieunterricht erteilten
die Jahrgangsoffiziere. Der Unterricht in den Elementarfächern wurde uns von
tüchtigen Volksschullehrern gegeben. Unvergessen ist mein erster Lehrer,
Kantor Platz, der uns jungen Leute mit wenigen
Worten von der richtigen Seite zu packen wusste, auch den größten „Schlot“
derart in seine Schranken wies, dass er verschämt auf die Schultischplatte
sah. Kantor Platz wurde im Herbst 1901 nach 50jähriger Schuldienstzeit - er
hatte vor Gründung der U.-Vorschule Annaburg, 1881, schon am
Militär-Knaben-Erziehungs-Institut Annaburg unterrichtet - in den Ruhestand
versetzt und erhielt zum Abschied den „Roten-Adler-Orden IV. Klasse“, in
wilhelminischer Zeit eine besondere Auszeichnung und Anerkennung für einen
Volksschullehrer. Ende 1969 erfuhr ich, dass zur gleichen Zeit, als Kantor
Platz am Mil.Kn.-Erz.Institut amtierte, dort auch der fr. Volksschullehrer
Andreas Schöppa unterrichtete — 1870 bis 1875, - der anschließend
Seminarlehrer in Uetersen, Kreisschulinspektor in Tondern und von 1896 bis
1906 Seminardirektor am Lehrerseminar in Eckernförde war. Daraus ist zu
entnehmen, dass in Annaburg ausgesuchte tüchtige Volksschullehrer
unterrichteten.
Nachfolger von Kantor Platz wurde der aus Ostpreußen stammende
Volksschullehrer Papst, der einen besonders guten Deutschunterricht erteilte
und durch interessantes Kopfrechnen zum schnellen Denken erzog. Als wir am 1.
April 1903 zur Unteroffizierschule Treptow/Rega überstellt wurden, machten
wir - nicht alle - einen Tag vor der Abreise bei ihm in seiner Wohnung einen
Abschiedsbesuch, worüber er sehr erfreut war. Er hatte für jeden ein anerkennendes
Wort. Ich erinnere noch sehr gut, dass er zu mir sagte: „Baasch, es kommt
beim Übertritt in den Zivildienst nicht darauf an, wie viele Klimmzüge und
Doppelbeinheben Sie machen können (ich war ein schlechter Turner), sondern
dann wird gefragt, was haben sie gelernt. Bleiben Sie so bei, dann werden Sie
es auch zu etwas bringen“. Ich glaube ohne Überheblichkeit sagen zu können,
dass ich zu seinen guten Schülern zählte. Im April 1903 ahnte ich noch nicht,
dass mein freiwillig erwählter Soldatenberuf schon in gut zwei Jahren beendet
sein würde und ich wieder von vorn anfangen müsste. Die Abschiedsworte meines
Lehrers habe ich aber immer beherzigt.
Im Juni 1901 machte die 1. Kompanie der U.V.
Annaburg eine eintägige Wanderfahrt nach Wörlitz in Anhalt- Dessau, frühere
Residenz des Fürsten Leopold von Anhalt- Dessau, der als Feldmarschall und
Exerziermeister des .Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm 1. in die Geschichte
einging. Im Schloss zu Wörlitz, nahe der Elbe, war damals ein Museum
untergebracht, in dessen Räumen Erinnerungsstücke an den „Alten Dessauer“
aufbewahrt wurden, angefangen bei seinem ersten Bett und Spielzeug bis zu
seinem Sterbebett. Seine Gemahlin war Anna Luise Föhse, eine
Apothekerstochter, genannt Anneliese von Dessau. Der große und schöne Schlosspark,
der „Wörlitzer Park“, wurde von zahlreichen, künstlich hergerichteten
Wasserarmen durchzogen, die von der Elbe abgezweigt waren und kleine Inseln
bildeten, auf denen kleine Tempel errichtet waren wie „Tempel des Tags“ und
„Tempel der Nacht“ die vielleicht amourösen Zwecken gedient haben. Als wir
den Park verlassen wollten, ritt ein hoher Offizier, begleitet von einer
großen Militärkavalkade an uns vorbei, würdigte uns aber keines Blickes. Es
war General von Hindenburg, der spätere Reichspräsident, zu der Zeit
Kommandeur des IV. Armeekorps.
Die Zöglinge der Unteroffizier-Vorschulen - um die
Jahrhundertwende sieben - erhielten
außer Oster-, Pfingst- und Weihnachtsurlaub im Spätsommer j. Js. sechs Wochen
Erholungsurlaub. Mein erster großer Urlaub begann am 8. August 1901 und
dauerte bis Mitte September. Wir durften schon am 7. August fahren. Vorher,
am 5. und 6. August, hatten wir „große Besichtigung“ durch den Inspekteur der
Infantrieschulen Generalmajor von Uslar, ein alter, väterlicher Herr, der sehr
milde mit uns verfuhr und vor dem unsere Vorgesetzten anscheinend mehr „Wind“
hatten als wir Zöglinge. Am 7. August, morgens 5 1/2 Uhr fuhr ich von Annaburg ab und war dank guter
Personenzugverbindung abends 7 Uhr in Kiel, wo mein Vater mich erwartete. Wir
fuhren mit dem nächsten Schiff nach Friedrichsort und marschierten von dort
in 1 1/2 Stunden nach unserem Heimatdorf Scharnhagen. Die Freude der Mutter,
ihren Sohn wieder zu sehen, war groß. Der vermeintlich lange Urlaub war
schnell vorbei. Von der Verwaltung der U.V. hatte ich einen Freifahrtschein
für die Eisenbahn, Verpflegungs- und Brotgeld bekommen. Wenn diese Sätze auch
nicht erheblich waren, stellten sie doch ein geringes Taschengeld und eine
wirtschaftliche Entlastung der Eltern für meinen Unterhalt dar. Weihnachten
und Ostern gab es 14 Tage Urlaub, den ich gern in Anspruch nahm, ohne zu
bedenken, wie schwer es den Eltern fiel, das Reisegeld — Rückfahrkarte 10,60
M- aufzubringen und mich zwei Wochen durchzuhalten. Allein das Reisegeld
bedeutete fast einen Wochenverdienst meines Vaters. Ich muss mich heute noch
meiner Dummheit schämen! Als ich 1903/05 auf der Unteroffiziersschule war,
habe ich darüber nachgedacht und auf den Urlaub zu Ostern und Weihnachten
verzichtet. In den beiden Jahren auf der U.-Schule bin ich nur einmal auf
Urlaub gefahren. Es war der „Große Urlaub“ für vier Wochen. Auch in diesem
Falle gab es einen Freifahrtschein, Löhnung (alle 10 Tage 2,20 M),
Verpflegungs- und Brotgeld.
Die beiden Jahre in Annaburg gingen schnell dahin.
Im Sommer 1902 machten wir eine dreitägige Wanderfahrt durch die „Sächsische
Schweiz“, nördlicher Teil des Elbsandsteingebirges an der sächsisch
böhmischen Grenze, die viel Abwechslung und Freude brachte. Diese wurde durch
den chronischen Geldmangel sehr beeinträchtigt. Am ersten Tage fuhren wir mit
der Eisenbahn von Annaburg über Dresden bis Rathen/ Elbe. Von hier aus wurde
gewandert. Unser Weg ging in Serpentinen den Basteifelsen hinauf zur Bastei,
von wo aus man bei schönstem Sonnenschein einen herrlichen Fernblick über die
Elbe und das Gebirge hatte. In der Ferne sah man auf hohem Felsen die alte
Festung „Königsstein“, in der mancher Gefangene, der den früheren absoluten
Herrschern unbequem war, geschmachtet hat. Ziel unseres ersten Wandertages
war Bad Schandau, wo übernachtet wurde. Dort habe ich zum ersten Male in
meinem Leben einen großen Windbeutel mit Schlagsahne gegessen. Er kostete 15
Pfennig. Der zweite Wandertag führte immer weiter durch die Berge zum
„Kuhstall“, eine versteckte Bergschlucht, in der die Bevölkerung in früherer
Zeit Schutz suchte, wenn das Land mit Krieg überzogen wurde, Das Endziel am
dritten Tage unserer Wanderung war Herrnskretschen. Der Weg dorthin führte
durch die Edmundsklamm und durch das Prebischtor. Es war ein regnerischer Tag.
Unsere Verpflegung während des ganzen Tages, die uns morgens ausgehändigt
wurde, waren zwei trockene Brötchen und eine Frikadelle. Hungrig und durstig
trafen wir am Spätnachmittag in Herrnskretschen ein. Dort erhielten wir eine
dicke, mit gekochtem Rindfleisch und Salzgurke belegte Stulle und ein Glas
Bier. Gegen 6 Uhr abends fuhren wir mit dem fahrplanmäßigen Zuge heimwärts
nach Annaburg, wo wir gegen Mitternacht eintrafen und uns ermüdet auf unser Strohsack legten. In unserer Hoffnung auf eine
Abendsuppe wurden wir enttäuscht.
Im Herbst 1902 erhielten wir einen neuen
Inspekteur der Infanterieschulen, der alsbald eine Besichtigung der ihm
unterstellten U.-Vorschulen und -schulen vornahm und als eine der ersten die
U.-Vorschule Annaburg aufsuchte. Ihm hatten wir es zu danken, dass wir fortan
jeden Abend eine warme Abendkost bekamen. Neue Besen kehren gut.
Am 15. April 1903 war unsere zweijährige
Vorschulzeit beendet. Wir wurden im Sammeltransport zur Unteroffizierschule
Treptow/Rega überstellt. Transportführer war Vizefeldwebel Marienthal, ein
schneidiger älterer Korporal, der uns am späten Abend vom Bahnhof
Treptow/Rega in etwa halbstündigem Marsch zur Kaserne an der Greifenberger
Chaussee am äußersten Rande der Stadt, führte und uns in mitternächtlicher Stunde
mit seiner klaren, weithin schallenden Stimme dem Offizier vom Dienst
meldete. Die Bataillonskapelle hatte uns auf dem Bahnhof mit Musik empfangen
und mit klingendem Spiel durch die Stadt zur Kaserne geführt. Sie spielte
Frühlingslieder u. a. „Alle Vöglein sind schon da“. War es Hohn, war es
Schadenfreude? Auf dem ganzen Wege wurden wir von einer Schar junger Mädchen
begleitet (und dabei war es verboten, mit einem kleinen Mädchen spazieren zu
gehen).
Nach Verteilung auf die vier Kompanien wurden wir von deren U.v.D. in
die einzelnen Kompaniegebäude und dort in unsere Stuben eingewiesen, wo schon
einige von anderen Vorschulen im Laufe des Tages eingetroffene Kameraden
ihren wohlverdienten Schlaf schliefen. Trotz der späten Stunde erhielten wir
noch unser Abendessen: Grießsuppe
und eine „Berliner Goldleiste“, eine Stange Weichkäse. Unser Kommissbrot
sechs Pfund schwer, lag im Spind. Nach dem Essen ging es schnellstens in die
auf der Stube stehenden Feldbetten. Für einen unbekümmerten Schlaf sorgte
unsere Jugend.
Die Unteroffiziersschule Treptow/Rega war am 1. April 1901 gegründet
worden, bestand also erst 2 Jahre. Sie war die jüngste unter den bestehenden
sieben Schulen. Der Bund ehem. Unteroffizier-Vorschüler und -schüler, dem ich
seit 1967 angehöre, veröffentlichte anlässlich seines 10. Bundestreffens am
2. bis 5. September 1971 in Northeim/Hann. in seiner Festschrift einen Auszug
aus dem von Oberleutnant Weberstedt im März 1910 in Treptow/Rega
herausgegebenen Buche „Die Unteroffizierschule Treptow/Rega“, das leider im
Buchhandel nicht mehr zu haben ist. Von den am 1. April 1901 von anderen
Truppenteilen zur Unteroffizierschule Treptow/Rega versetzten Offizieren
waren April 1903 nur noch wenige am Ort: Hauptmann Fabricius, 4. Kompanie. Er
war Junggeselle und verbrachte die meiste Zeit in der Kaserne. Stabsarzt Dr.
Evler, der sich zu meiner Zeit an der Camminer Chaussee eine Privatklinik
baute. Er wurde nach dem 2. Weltkriege als hoch betagter Mann von den Polen
vertrieben. Das erfuhr ich im Frühjahr 1946 in meiner Dienststelle in
Kiel-Pries von einem aus Treptow/Rega vertriebenen Spediteur Salchow, der
hocherfreut war, einen Menschen zu treffen, der in seiner Heimat gewesen war.
Von den in der Festschrift genannten Kompanieoffizieren erinnere ich mich des
Oberleutnants Bene, des Leutnants Sabinski, mein Inspektionsoffizier, der
Anfang des 1. Weltkrieges ins August 1914 als Hauptmann im Inf. Regt. 35
Brandenburg/Havel fiel. Leutnant Hachfeldt, zu meiner Zeit Batl. Adjutant.
Besonders erinnere ich mich des Obermusikmeisters Schulz. Oberl. Bene wurde
von Leutnant Reetz abgelöst.
Als wir am 15. April nach Treptow/Rega kamen, war die Kasernenanlage an
der Greifenburger Chaussee noch fast neu. Jede Komp. Hatte ihr eigenes Haus.
Nach dem 1. Weltkriege war in der Kaserne eine Polizeischule untergebracht.
Ob nach Wiedereinführung der Wehrpflicht, 1935, hier wieder eine
Unteroffizierschule eingerichtet wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Heute
sitzt der Pole dort.
Treptow war eine ausgeprägte Ackerbürgerstadt, mit
großer landwirtschaftlicher Umgebung, vielen Kleingewerbetreibenden und
Arbeitern. Als Einwohnerzahl hörte ich ca. 7.000. An den Hauptgeschäftstagen,
besonders am Sonnabend, standen in der Hauptstraße „Lange Straße“ rechts und
links vom Fahrdamm mit „Katzenkopfpflaster“ die Bauernwagen. Während die
Bauersfrau beim Kaufmann ihre Einkäufe erledigte, saß der Bauer in der fast
hinter jedem Laden liegenden Gaststube und hielt dort bei Bier und einem
„Schluck“ seinen Gedankenaustausch mit seinen Berufsgenossen. Der Viehhandel
wurde auf dem Schützenplatz abgehalten. Treptow ist eine alte Stadt. Ihre
Geschichte ist mir nicht bekannt. Ich entsinne mich noch unsrer
Abschiedsfeier Ende März 1905, die, wie auch die Kaiser-Geburtstagsfeier, in
der Turnhalle stattfand. Auf dieser Abschiedsfeier sprach Vizefeldwebel
Langner einen von ihm verfassten Prolog, der vermutlich aus der
Stadtgeschichte entnommen war. Dort hieß es: „Da zog in Treptows Mauern der
Priester und Scholarch Johannes Bugenhagen. Er blieb so manchen Tag“. Mehr
blieb in meinem Gedächtnis nicht hängen. Es sind seitdem 71 Jahre vergangen.
Johannes Bugenhagen war, wie Philipp Melanchthon, ein Freund und Anhänger D.
Martin Luthers. Wer Johannes Bugenhagen sehen will, gehe in die
Pommernkapelle der Nikolaikirche in Kiel, wo sein von Künstlerhand gemaltes
Bild in Lebensgröße zu sehen ist.
Am 15. April war ich Soldat, Füsilier der 2. Komp.
U-Schule Treptow/Rega. Mein Kompanieführer war Hauptmann Liebrecht, Ostpreuße
(Lorrbaß!), ein angejahrter, ergrauter Offizier, den ich nicht in guter
Erinnerung habe, weil er mich noch am Tage meiner Entlassung, 30. 6. 1905,
„am liebsten einsperren würde“ wie er wörtlich zum „Spieß“
(Kompaniefeldwebel) bei Anerkennung der Stammrolle sagte. Der Grund: Ich
hatte mein Haar kurz schneiden lassen, ohne die übliche „preußische Sechs“,
bevor das Kasernentor sich hinter mir schloss. Ohne Gruß und ohne ein gutes
Wort für die Zukunft ließ er mich gehen. Ich war froh, als ich draußen war.
Jede Kompanie hatte vier Inspektionsoffiziere,
einen Oberleutnant und drei Leutnante, die jeweils auf 2 bis 3 Jahre von
ihrem Regiment zur Dienstleistung bei der U.-Schule abkommandiert waren. Mein
Inspektionsoffizier war im ersten Jahre der schon genannte Leutnant Sabinski,
der 1904 zum I.R.35 in Brandenburg/ Havel versetzt wurde, mit dem er am 1.
August 1914 in den Weltkrieg gezogen und gleich in den ersten Augusttagen
1914 im Westen gefallen ist. Sein Nachfolger als Inspektionsoffizier wurde
Leutnant von Wittenhorst-Sonsfeld von einem Badischen Regiment, der um 1905
als Freiwilliger zur Schutztruppe nach Südwest-Afrika ging und dort an den
Kämpfen gegen die Herero (Bantuneger) teilnahm und wohl nicht zurückgekehrt
ist. Er entstammte einer alten preußischen Offiziersfamilie, war im
Kadettenkorps erzogen und als Selektaner der Hauptkadettenanstalt in
Großlichterfelde bei Berlin bei seinem Ausscheiden zum Regiment zum Offizier
befördert worden. Er war von Statur nur klein, aber ein tüchtiger Offizier,
den wir alle gern hatten.
Die Leser mögen über diese Aufzeichnungen vielleicht lächeln. Sie
können aber daraus ersehen, wie fest diese Jahre sich meinem Gedächtnis
eingeprägt haben. Es waren vermeintlich harte Jahre, wurden aber nicht als
solche empfunden. Sie gaben uns die Grundlage unseres Lebens.
Auf der U.-Vorschule hatten wir, wie schon
erwähnt, hauptsächlich theoretischen Unterricht, auf der Schule war es
umgekehrt. Wir waren Soldat, waren vereidigt und unterstanden den Militärgesetzen.
Der Infanteriedienst begann. Der Unterricht erstreckte sich auf einige
Stunden Unteroffiziersdienstunterricht. Geschichts- (Preußische Gesichte) und
Geographieunterricht wurde von den Inspektionsoffizieren erteilt.
Elementarunterricht hatten wir nur an einem Vormittag in der Woche, der uns
durch besonders tüchtige Volksschullehrer vermittelt wurde. Unser Sold
betrug, wie damals für alle Infanteristen, 2,20 M alle 10 Tage.
Nach Beendigung der Rekrutenausbildung und
-besichtigung wurde die Kompanie zusammengestellt. Es begann die
Kompanieausbildung, die ebenfalls mit der Besichtigung abschloss. Die
Angehörigen des jüngeren Jahrgangs erhielten im August vier Wochen
Erholungsurlaub, der ältere Jahrgang ging im September 14 Tage ins Manöver. Ich
erhielt wegen ungenügender Schießleistungen keinen Erholungsurlaub und wurde
während der Abwesenheit der Urlauber und des am Manöver teilnehmenden älteren
Jahrgangs dem so genannten Wachkommando zugeteilt. In gleicher Weise wurde
bei der 1., 3. und 4. Kompanie verfahren. Unsern vierwöchigen Urlaub
erhielten wir Ostern 1904. Auf Weihnachtsurlaub verzichtete ich, um meinen
Eltern bei dem geringen Arbeitsverdienst meines Vaters keine unnötigen Kosten
zu verursachen. Unvergesslich ist mir der Weihnachtsabend 1903, den ich mit
meinen nicht auf Urlaub gefahrenen Kameraden auf einer Mannschaftsstube
feierte. Ich feierte zum ersten Male Weihnachten in der Fremde. Es war eine
Weihnacht, wie ich sie bis dahin nicht kannte. Der Sylvesterabend wurde, wie
überall, auch bei uns gefeiert, doch nicht so laut und ausgelassen wie im
Zivilleben üblich. Wir bekamen ab 9 (21) Uhr unsern nicht allzu starken
Sylvesterpunsch, sangen wohl auch ein Lied und traten um 12 Uhr nachts - auch
die Daheimgebliebenen der anderen drei Kompanien - vor den einzelnen
Kompaniegebäuden an, riefen uns gegenseitig ein „Prosit Neujahr“ zu und
sangen dann gemeinsam den „Choral von Leuthen, 5.12.1757“, „Nun danket alle
Gott“. Dann hieß es „Schlafen gehen“! Das Jahr 1904 war angebrochen.
Am 1. April 1904 fuhren die Kameraden des älteren Jahrgangs - 1902/04
zu ihrem Regiment, das sie sich ausgesucht hatten. Soweit ihren Wünschen
nicht entsprochen worden war, kamen sie zum 15. und 16. Armeekorps,
Elsass-Lothringen. Dort war immer Bedarf. Ich gehörte nun zum „Älteren
Jahrgang“. Neue Rekruten rückten ein. Der Dienst ging wie üblich weiter. Im
Sommer 1904 machte sich zum ersten Male mein Beinleiden (Krampfadergeschwüre)
bemerkbar. Ich kam ins Lazarett, wurde nach einigen Wochen als gesund und
dienstfähig entlassen und ging im Herbst mit meinem Jahrgang ins Manöver, aus
dem ich mit kranken Beinen zurückkam. Längere Lazarettaufnahmen wechselten
mit kürzerer Dienstfähigkeit. Weihnachten 1904 verbrachte ich im Lazarett.
Durch die wiederholten Erkrankungen kam ich im Dienst zurück. An ein
Ausscheiden zum Regiment am 1. 4. 1905 war nicht zu denken. Als meine
Kameraden, mit denen ich teilweise vier Jahre zusammen gewesen war, an diesem
Tage zu ihrem Truppenteil fuhren, blieb ich allein zurück. Mittags wurde ich
dem Kommandeur vorgestellt, der mich zum etatmäßigen Gefreiten ernannte,
außeretatmäßig war ich es seit dem 27. Januar 1905 - ich lag damals im
Lazarett - und mir eröffnete, dass ich unter den obwaltenden Verhältnissen
noch bis zum Herbst auf der Schule bleiben müsse. Als Trost fügte er hinzu:
„Führen Sie sich weiterhin gut. Ich werde dann dafür sorgen, dass Sie als
Unteroffizier ausscheiden und nach Möglichkeit zu dem Truppenteil kommen, den
Sie sich wünschen“. Ein Trostpflaster! Aus alledem wurde nichts. Ich erkrankte
erneut, kam wieder ins Lazarett, aus dem ich Ende Juni 1905, notdürftig
geheilt, als Halbinvalide mit sechs Mark Militärrente monatlich, nach Pries
bei Friedrichsort, wo meine Eltern seit Mai 1904 wohnten, entlassen wurde. Es
fiel mir nicht leicht, nach Hause zu fahren. Auf der Heimreise am 30.6.1905
machte ich mir natürlich Gedanken über meine Zukunft, war mir aber auch
darüber klar, dass ich nach den wiederholten Erkrankungen wohl doch kein
guter Soldat, soweit der praktische Dienst infrage kam geworden wäre. Ein
Neuanfang musste gemacht werden. Viele Jahre später las ich in Fritz Reuters
Werk „Ut mine Festungstid“, als er nach siebenjähriger Festungshaft von der
kleinen preußischen Festung Dömitz/Elbe seiner Vaterstadt Stavenhagen
zuwanderte sich die Frage vorlegte: „War was ik? War kunn ik? Wat wöß ik?
Nicks“. Hätte ich Ende Juni 1905 diese Worte schon gekannt, hätte ich sie
auch auf mich anwenden können. Es widerstrebte mich, irgendwo als ungelernter
Handarbeiter unterzuschlüpfen. Das hätte ich auch 1901 haben können. Nach
kaum einwöchigem Aufenthalt im Elternhaus ging ich kurz entschlossen nach
Kiel und dort zur öffentlichen Schreibstube in der Muhliusstraße, von der ich
gehört hatte, dass sie Bürokräfte beschäftigte und auch in Bürostellen vermittle.
Ich hatte Glück. Am 7.7.1905 wurde von der damaligen Meierei „Schweizertal“
in Suchsdorf am Aufweg zur Levensauer Hochbrücke, ein junger Mann für
einfache Kontorarbeiten gesucht. Ich wurde hingeschickt und angenommen. Meine
Arbeitsstelle war ein Großbetrieb mit Meierei, Bäckerei, Schweinemästerei
(ca. 1.000 Schweine auf dem Stall), Schlachterei und Landwirtschaft. Mein
Arbeitsverdienst: Zwei Mark täglich bar, auch sonntags, weil an diesem Tage
auch mittags beansprucht, daneben freie Kost, eine wirklich gute Kost, von
morgens bis abends. Dass ich in Kiel wohnte und morgens und abends eine gute
Stunde Fußmarsch zu leisten hatte, morgens um etwa 7 Uhr das Haus verließ und
abends gegen 8 Uhr zurückkehrte, kümmerte mich nicht. Ich war jung, 19 Jahre
alt und war froh, dass ich Arbeit hatte. Vom 1. September ab wurde ich in das
Angestelltenverhältnis übernommen, wohnte auch im Betrieb, musste allerdings meine Unterkunft mit
einem anderen Angestellten teilen und erhielt eine Monatsvergütung von 40,—
M. Dazu die Kost. Leider dauerte die Freude nicht lange. Am 1.11.1905 wurde
über das Vermögen der Molkerei „Schweizertal“ der Konkurs verhängt. Das
Personal wurde größtenteils entlassen. Ich blieb noch bis Mitte November,
ging zurück nach Kiel und suchte wieder die öffentliche Schreibstube auf, die
aber nur wenig Arbeit bieten konnte. Kurz vor Weihnachten erhielt ich eine
Aushilfsbeschäftigung in einem Baugeschäft am Knooper Weg, fand einen sehr
gütigen Arbeitgeber, der mir am Weihnachtsabend, obgleich ich dort erst acht
Tage arbeitete, eine halbe Kiste Zigarren überreichte, womit ich nicht
gerechnet hatte. Zu meiner Überraschung lag unter dem Kistendeckel ein
Fünfmarkschein. Ein schönes Weihnachtsgeschenk! Anfang Januar 1906 war meine
Aushilfsarbeit zu Ende. Fünfundzwanzig Jahre später, etwa 1930, ging es mit
der deutschen Wirtschaft rasend bergab. Ein Betrieb nach dem andern kam zum
Erliegen, auch das Baugeschäft, in dem ich Weihnachten 1905 beschäftigt war.
Ich war seit dem 1.7.1907 im Dienste der Stadt Kiel und seit dem 1.5.1929
Leiter des Kreisamts Mitte im städtischen Fürsorgeamt. Eines Tages erschien
mein wohlwollender Arbeitgeber von Ende 1905 im Kreisamt und beantragte
Fürsorgeunterstützung. Er war durch die rasende Wirtschaftskrise vollkommen
mittellos geworden. Kummer und Sorgen hatten dem großen stattlichen Manne,
der so oft in Not geratenen Mitbürgern Helfer gewesen war, den Nacken
gebeugt. Ich war erschüttert und half, soweit ich es mit meinem Dienst und
Gewissen vereinbaren konnte und war froh dass er mich nach so langer Zeit
nicht wieder erkannte. Kurze Zeit später war er nicht mehr.
Januar/Februar sind bekanntlich bei uns die
härtesten Wintermonate. Das habe ich Anfang 1906 ganz besonders gespürt. Ich
war arbeitslos. Am 12.2.1906 wurde ich von dem Leiter der öffentlichen
Schreibstube zum Statistischen Amt der Stadt Kiel,
Ecke/Lorentzendamm/Bergstraße, geschickt (heute steht dort die Kieler Spar-
und Leihkasse), um als Hilfsarbeiter bei der Wohnungszählung eingestellt zu
werden. Es glückte. Diese Einstellung war für mich ein großes, ich darf wohl
sagen, das größte Geburtstagsgeschenk meines Lebens. Ich wurde an diesem Tage
20 Jahre alt und bin seitdem nie wieder beschäftigungslos gewesen. Als
Vergütung erhielt ich drei Mark täglich (Dalerschriever!), wovon während der
ersten vier Wochen 10 Prozent täglich als Vermittlungsgebühr für die
öffentliche Schreibstube einbehalten wurden. Damit musste ich mich abfinden.
Ich hatte Beschäftigung und konnte mich satt essen. Daran hatte es seit
Jahresbeginn manchmal gemangelt. Gegen Jahresende 1906 neigte die Arbeit beim
Statistischen Amt sich ihrem Ende zu. Der größte Teil der Hilfskräfte musste
mit Entlassung rechnen. Ich war zuletzt eingestellt worden und musste als
Erster zur Entlassung kommen. Dem musste ich vorbeugen. Der Winter stand
bevor. Von privater Seite wurde ich auf eine Stellung als Diener bei dem
Admiral a. D. Thomsen aufmerksam gemacht. Ich stellte mich bei dem Herrn vor
und wurde zum 1. Dezember 1906 angenommen. Die Annahme dieser Stelle
gereichte mir für mein ganzes Leben zum Segen. Ich darf wohl kurz erwähnen,
dass mein neuer Dienstherr, der aus der alten Kaiserlichen Marine kam,
Schöpfer der Marine-Artillerie war und sein Haus, das er sich nach seiner
Verabschiedung aus dem Marinedienst gebaut hatte, nach der Göttin der
Artillerie „Villa Barbara“ nannte. Er stammte aus Wesselburen, wo sein Vater
Etatsrat gewesen war.
Da ich den ganzen Tag auf den Beinen war, stellte
sich im Sommer 1907 mein altes Beinleiden wieder ein. Ich begab mich in
Behandlung der Universitäts-Hautklinik. Dort wurde mir teilweise sitzende
Beschäftigung empfohlen. Ich machte meinen Dienstherren hiervon Mitteilung,
der meinen Fortgang bedauerte, mir aber auch sagte, dass ich nicht eher
wegkäme, bevor ich nicht eine neue Stellung hätte. Ich versuchte, durch
Empfehlung des Admirals als Lohnschreiber auf der Kaiserlichen Werft
unterzukommen. Der Oberwerftdirektor bedauerte jedoch, für mich nichts tun zu
können, da ich wegen meines Beinleidens kaum für dienstfähig befunden würde.
Außerdem wäre fraglich, dass ich bei meiner Vorbildung die von den
Lohnschreibern vor der Einstellung abzulegende Prüfung bestehen würde. Ich
erhielt nun einen Empfehlungsbrief an den Personaldezernenten der Kieler
Stadtverwaltung, Stadtrat Dr. Thode, Neffe des Admirals, der außerordentlich
bedauerte, im Augenblick nichts für mich tun zu können, die Sache aber im
Auge behalten und Nachricht geben würde. Das war Mitte August 1907. Am 30.
August fragte der Dienststellenleiter der Armenverwaltung (später
Fürsorgeamt, heute Sozialamt) der Stadt Kiel fernmündlich an, ob ich bereit
wäre, die Stelle eines Hilfsarbeiters in der Armenverwaltung anzunehmen und
ob ich am Montag, dem 2. September meinen Dienst antreten könnte. Nach kurzer
Rückfrage hei meinem Dienstherrn antwortete ich, dass ich am Montagmorgen
meinen Dienst antreten würde. Am 2. September, morgens 8 Uhr, meldete ich
mich bei dein Bürovorsteher der Armenverwaltung, Stadtsekretär Miethke, und
begann damit meine 43 1/2 jährige Dienstzeit in der Stadtverwaltung Kiel, die
am 28. Febr. 1951 infolge Erreichung der Altersgrenze endete. Meine
Dienstvergütung betrug zunächst 3,50 M täglich. Mein Abteilungsleiter war
Stadtsekretär Georg Müller, ein mir wohlwollender Vorgesetzter. Auch er war
ehemaliger Annaburger, d.h., er war vom 10. bis 14. Lebensjahr Zögling des
Militär-Knaben-Erziehungs-Instituts in Annaburg gewesen. Nach seiner
Konfirmation war er bei der Stadtverwaltung Kiel als Verwaltungslehrling angefangen,
weil er körperlich zu schwach war, Zögling einer Unteroffiziersvorschule oder
Schiffsjunge der Kaiserlichen Marine zu werden. Am 1. April 1908 wurde mir
eine Stelle als ständiger Hilfsschreiber übertragen und ich war damit in
einer gesicherten Stellung mit monatlicher Kündigung, die nur beim Vorliegen
eines wichtigen Grundes ausgesprochen werden konnte. Meine Dienstvergütung
betrug monatlich 95,- M brutto. Endlich konnte ich daran denken, etwas für
meinen äußeren Menschen zu tun, obgleich man bei diesem Einkommen in
damaliger Zeit auch noch keine großen Sprünge machen konnte.
Im Laufe der Zeit kam mir die Einsicht, dass ich
nicht immer als ständiger Hilfsschreiber herumlaufen dürfe, sondern bemüht
sein müsse, weiterzukommen, Beamter zu werden. Was andere leisteten, traute
ich auch mir zu und bewarb mich um Zulassung zur Büro- und
Kassenassistenten-Laufbahn (mittlerer Dienst), erhielt aber ablehnenden
Bescheid. Ab Herbst 1911 arbeitete ich im Steueramt und ab Mai 1912 im
Hauptamt. Hier erhielt ich meinen Arbeitsplatz im Vorzimmer des
Oberbürgermeisters als Stenograph und Maschinenschreiber. An ein Weiterkommen
war auch hier nicht zu denken. Aus den ständigen Hilfsschreibern wurden
städtische Büro- und Kassengehilfen, die auch eine Besoldungsordnung
erhielten. Mein Monatseinkommen betrug 1912 115,- M. Ich war inzwischen 26
Jahre alt geworden und trug mich mit Heiratsgedanken. Am 14. Juni 1913
schloss ich mit Margareta geb. Krautwurm die Ehe. Auf die Dauer war unser
Einkommen - 112,- M Dienstvergütung und 6,75 M Militärrente = 118,75 M, zu
klein. Aussicht auf Besserstellung in der Kieler Verwaltung bestand nicht, da
ab 1. April 1913 die Verwaltungsbeamtenschule des Schleswig-Holsteinischen
Städtevereins mit dem Sitz in Kiel eingerichtet wurde und die bis dahin
üblichen Lehrgänge des Kieler Magistrats während der Dienststunden in
Fortfall kamen. Ich konnte zwar für den Schulbesuch beurlaubt werden, die
Dienstvergütung wurde während dieser Zeit (6 Monate) nicht weitergezahlt.
Das Schicksal fügte auch jetzt alles zum Besseren.
Durch Vermittlung des Leiters des Personalamtes der Stadt Kiel wurde ich ab
1. November 1913 vom Amtsvorsteher in Neumühlen-Dietrichsdorf als
Polizei-Sergeant eingestellt und wurde Beamter. Mein Anfangsgehalt betrug
1.800 M jährlich, zuzüglich eines Kleidergeldes von 150 M jährlich. Ich
gestehe, gern zog ich die Polizeiuniform nicht an. Ich hatte aber monatlich
36,- M Mehreinkommen. Auch bestand Aussicht auf ein Weiterkommen. Diese
Anstellung bedingte einen Wohnungswechsel von Kiel nach
Neumühlen-Dietrichsdorf. Hier wurden am 10. Juni 1914 unsere Kinder Harro und
Marianne (Zwillinge) geboren. Sieben Wochen später brach der 1. Weltkrieg
aus. Der Kriegszustand wurde bereits am 31. Juli erklärt. Den damals
geltenden Vorschriften entsprechend erschien gegen Abend im Ort ein Offizier,
bereits in Felduniform, in Begleitung eines Hornisten, der ein Signal blies,
worauf der Offizier den von Allerhöchster Stelle proklamierten Kriegszustand
verlas. Bereits am nächsten Tage erfolgte die Mobilmachung. Beide
Bekanntmachungen wurden an zahlreichen Stellen im Ort an die Mauern geklebt.
Das war meine Aufgabe. Nicht nur am 31. Juli, sondern in den ersten
Kriegswochen fast täglich, in der ersten Woche sogar morgens und abends.
Nebenher versah ich meinen Dienst, soweit in die Zuständigkeit des
Amtsvorstehers fallend. Mein Kollege musste sich schon am 31. Juli bei der 1.
Matrosen-Division in Kiel zum Dienst melden. Vor seiner Anstellung in
Neumühlen-Dietrichsdorf am 1.5.1913 hatte er 12 Jahre bei der Marine gedient,
zuletzt als Oberfeuerwerks-Maat. Ich gehörte laut Landsturmschein vom
23.7.1908 dem „Landsturm mit der Waffe“ an. Nach Vollendung des 20. Lebensjahres
war ich dreimal zur Musterung. Einige Tage nach der Mobilmachung wurde der
Landsturm aufgerufen. Es handelte sich um gediente Leute, die vom aktiven
Dienst zur Reserve entlassen, zur Landwehr 1. und 2. Aufgebots überführt und
mit 39 Jahren dem Landsturm überwiesen waren und diesem bis zur Vollendung
des 45. Lebensjahres angehörten. Da ich nach meiner Meinung als voll
ausgebildeter Soldat galt, ging ich am Musterungstage in das Musterungslokal,
die „Reichshallen“ in Kiel. Als alle aufgerufen waren, stand ich allein im
großen Saal und wurde ohne weitere Erläuterung nach Hause geschickt. und
verhielt mich abwartend. Während der langen Kriegsdauer bin ich wiederholt
zur Musterung beordert worden, zuletzt im Mai 1918, war zuerst
garnisionsdienstfähig und ab Mai 1918 arbeitsverwendungsfähig im Beruf.
Unsere Kinder waren bei Kriegsausbruch 51 Tage alt. Meine Frau war
glücklich, wie wohl jede Frau in ihrer Lage, dass sie mich zu Hause behielt.
Sie hat sich tapfer durch die knappen Kriegsjahre und die ebenso turbulente
Nachkriegszeit hindurch gekämpft, nicht nur im 1., sondern auch im 2.
Weltkriege, abgesehen davon, dass die Versorgung der Zivilbevölkerung im 2.
besser organisiert war als im 1.
Es soll nicht meine Aufgabe sein, hier über die
Geschehnisse während des 1. Weltkrieges in der damaligen Landgemeinde
Neumühlen-Dietrichsdorf zu berichten. Ich war zwar kein Kriegsteilnehmer,
nehme aber für mich in Anspruch, in der Heimat meine Pflicht, oftmals mehr
als meine Pflicht getan zu haben, mehr als mancher Etappensoldat. Ich war von
früh bis spät im Dienst.
Es wurden täglich Überstunden geleistet, die nicht bezahlt wurden. Aber
die Mehrarbeit hat sich gelohnt. Neben meinen Obliegenheiten im Polizeidienst
wurde ich zu kriegswirtschaftlichen Aufgaben herangezogen und hatte insbesondere
die Verwaltung der Lebensmittellager. Oktober 1916 wurde ich aus dem
Polizeidienst genommen und als Büroassistent in der Gemeindeverwaltung
angestellt, womit auch eine gehaltliche Aufbesserung verbunden war.
Die unmittelbar nach Kriegsende beginnende Geldentwertung traf die
Lohn- und Gehaltsempfänger besonders schwer. Daran änderten auch die sog.
Teuerungszulagen nichts. Wenn die prozentuale Erhöhung von den zuständigen
Instanzen beschlossen war und das erhöhte Gehalt zur Auszahlung kam, waren
die Preise längst davon gelaufen. Ab 1. Juli 1923 wurde die monatliche
Auszahlung meiner kleinen Militärrente von 6,75 M eingestellt und dafür eine
Abfindung von 720.000 M gewährt. Als der vermeintlich hohe Betrag zur
Auszahlung kam, konnte ich mir dafür gerade noch einen Lodenmantel kaufen,
der unter normalen Verhältnissen höchstens 40 Mark gekostet hätte. Oktober
1922 wurde die längst überfällige vierteljährliche Gehaltszahlung aufgehoben
und die monatliche Zahlung angeordnet. Nicht lange danach ging man zur
Halbmonatszahlung über und Ende 1923 wurde jeden 2. Tag Gehalt gezahlt. Mit
der Einführung der Rentenmark hatten wir endlich stabile Verhältnisse, aber
auch nur ein ganz geringes Einkommen. Es trat aber bald eine merkliche
Aufbesserung ein.
Vom 1. Mai bis Ende Juli 1921 wurde mir Gelegenheit gegeben, einen dreimonatigen
Lehrgang der Verwaltungsbeamtenschule des Schleswig-Holsteinischen
Städtevereins zu besuchen und die 1. Verwaltungsprüfung nachzuholen, wie es
bei der Übernahme in den Gemeindeverwaltungsdienst am 1. Oktober 1916
vorgesehen war. Vormittags ging ich zum Unterricht in Kiel und nachmittags
machte ich meinen Dienst in der Amts- und Gemeindeverwaltung. Die
Abschlussprüfung am 23/30. Juli bestand ich mit „gut“. Damit genügte ich auch
den gesetzlichen Bestimmungen für die Anstellung als Gemeindesekretär, die
ich ab 1. April 1921 erhielt. Anfang Juli 1924 wurde die Gemeinde
Neumühlen-Dietrichsdorf mit Wirkung vom 1. Mai 1924 in den Stadtbezirk Kiel
eingemeindet. Die Beamten und Angestellten der Gemeinde wurden nach Maßgabe
ihrer bestehenden Besoldungs- und Anstellungsbedingungen in den Dienst der
Stadt Kiel übernommen. Ich wurde Stadtobersekretär. Um von meinen Kollegen
nicht als fünftes Rad am Wagen betrachtet zu werden, entschloss ich mich, die
2. Verwaltungsprüfung nachträglich abzulegen, die ich nach Teilnahme an einem
zweijährigen Lehrgang (der Unterricht fand während der Dienststunden statt)
vor der Prüfungskommission des Schleswig-Holsteinischen Städtevereins am 3.
April 1929 mit der Prüfungsnote „fast gut“ bestand. Die dem Lehrgang
vorausgegangene Vorprüfung, (dieser Lehrgang hatte drei Monate gedauert)
hatte ich am 21. Januar 1927 mit der Note „gut“ abgeschlossen. Meine
Beförderung zum Verwaltungsinspektor (Stadtinspektor) erfolgte noch vor der
Abschlussprüfung des 2. Lehrgangs, am 1. April 1927. Sieben Jahre später,
1.4.1934, wurde ich Stadtoberinspektor und am 1. Januar 1942 Stadtamtmann.
Die letzte Beförderung wurde verspätet ausgesprochen, weil das hierfür
vorgesehene politische Unbedenklichkeitszeugnis des Gauleiters nicht
rechtzeitig erteilt wurde. Diese Verspätung hatte ich dem Kreisleiter der
N.S.D.A.P. zu verdanken, der dem Gauleiter berichtet hatte, „dass mein Wesen
(Freundlichkeit) im Verkehr mit dem Publikum zu wünschen übrig lasse“.
Bei der Eingemeindung der Gemeinde Neumühlen-Dietrichsdorf in den
Stadtbezirk Kiel wurde ich dem Fürsorgeamt überwiesen und hier als
Sachbearbeiter beschäftigt. Ich war wieder dort gelandet, wo ich am 1.
September 1907 meine Dienstlaufbahn als Hilfsschreiber begann. Oktober 1927
wurde ich zum städtischen Gesundheitsamt versetzt und erhielt hier die
Abteilung „Gesundheitsbehörde“. Am 1. Mai 1929, gleich nach Bestehen der 2.
Verwaltungsprüfung, wurde ich vom Gesundheitsamt wieder zum Fürsorgeamt als
Leiter des Kreisamts Mitte versetzt. Diesem Amt wurden im 2. Weltkriege auch
noch eine „Abteilung für Familienunterhalt“ angegliedert und die Kreisämter
„West“ und „Nord“ zugeteilt. In dieser Stelle blieb ich bis Ende 1945. Am 1.
Januar 1946 kam ich als Dienststellenleiter und Standesbeamter nach
Kiel-Pries-Friedrichssort. Hier blieb ich bis zu meiner Versetzung in den
Ruhestand am 28.2.1951. Diese Dienststelle war zwar keine
Stadtamtmannsstelle, die Versetzung entsprach aber früher geäußerten
Wünschen, weil ich hier meiner Heimat näher war. In Kiel-Pries habe ich,
zusammen mit meiner Frau, die schönsten Jahre meiner 43 1/2 jährigen
Dienstzeit verbracht. Die Verwaltungsarbeit war einfach und drückte nicht.
Neu war für mich die standesamtliche Tätigkeit. Die Grundzüge des
Personenstandsgesetzes hatte ich im 2. Lehrgang kennen gelernt. Bis zu meiner
Bestellung als Standesbeamter vergingen noch drei Wochen, während der ich
Zeit hatte, die „Dienstanweisung für Standesbeamte“ zu studieren. Die
standesamtliche Tätigkeit hat mir immer große Freude bereitet. Von Ende
Januar 1946 bis Ende Februar 1951 habe ich ca. 750 Ehen geschlossen, davon
etwa ein Drittel Ausländerehen. Die Ehepartner:
Esten, Letten, Littauer, Ukrainer, waren während des 2. Weltkrieges als
Zwangsarbeiter nach Deutschland gekommen und in Industriebetrieben der
Rüstungsindustrie in Kiel- Friedrichsort beschäftigt worden. Sie hatten nicht
die Absicht, in ihre östliche Heimat zurückzukehren und wanderten aus,
vornehmlich nach Kanada.
In der Nacht vom 26. zum 27. August 1944 wurde unsere Wohnung in Kiel-
Neum.Dietrichsdorf durch Brandbomben zerstört. Wir verloren fast unsere
ganze Wohnungseinrichtung und waren froh, Anfang April 1946 in Kiel-Pries
eine kleine Wohnung zu bekommen, die wir notdürftig einrichteten. Ein Jahr
später erhielten wir in meinem Dienstgebäude
Fritz-Reuter-Straße 87 eine nette Zweistubenwohnung, die ich erst Anfang
Oktober 1968, aufgab, als ich zu meiner Tochter nach Minden-Meißen
übersiedelte.
Im Herbst 1944 wurde ich mit vielen Kollegen aus der Stadtverwaltung
zum Arbeitsdienst nach Dithmarschen beordert. Wir sollten dort Panzergräben
ausheben, die die feindlichen Panzer am Vormarsch hindern sollten. Meines
alten Beinleidens wegen konnte ich aber schon nach drei Tagen wieder nach
Hause fahren und meinen Dienst im Rathause wieder aufnehmen. Der 6.
Kriegswinter lag vor uns. Die Fliegerangriffe auf die Stadt Kiel nahmen an
Härte zu. Alle vier Tage hatte ich Brandwache im Rathause. Von den vielen
Luftangriffen auf Kiel sind die vom 12. Dezember 1943 in meiner Erinnerung
geblieben. Das Verwaltungspersonal war in die vorgeschriebenen Schutzräume
gegangen. Als der Angriff beendet war und die Schutzräume verlassen werden
konnten, brannte das ganze Dachgeschoss des Rathauses. Die Kieler
Berufsfeuerwehr und die von auswärts herangezogenen Feuerwehren standen
einsatzbereit am Kleinen Kiel und warteten auf Einsatzbefehl. Welche Gründe
gegen den Einsatz der Wehren bestanden, entzieht sich meiner Kenntnis. An
eine Weiterarbeit war an diesem Tage nicht zu denken. Ich ging gegen drei Uhr
nachmittags mit einem Kollegen nach Hause. Den Dampfer, der uns nach
Neumühlen bringen sollte, erreichten wir nur auf Umwegen. Der Angriff hatte
sich anscheinend gegen die Innenstadt gerichtet, die vollständig in Rauch
eingehüllt war. Missmutig strebten wir unserer Behausung zu. Es dauerte aber
noch fünf Monate, bis Deutschland am Boden lag und der Krieg zu Ende ging.
Der Übergang vom Dienst in den Ruhestand ist mir
nicht schwer geworden. Ich war seelisch darauf vorbereitet. Neben meinem
Hausgarten hatte ich seit dem Frühjahr 1946 noch 600 qm Pachtland zu
bearbeiten und war damit vollauf beschäftigt. Die Pacht gab ich 1951 aus gesundheitlichen
Gründen auf und versuchte nun, der Erinnerung zu
leben. Für ein Nichtstun war ich noch zu rüstig. Ich dachte auch wohl an
Familienforschung, fand aber nicht den Anfang. Im August 1954 wurde ich durch
einen alten Schulkameraden, Friedrich Sellmer, den ich auf der Goldenen
Konfirmation im September 1952 in Dänischenhagen nach vielen Jahren wieder
getroffen hatte, — er starb Ende März 1975 fast 91 Jahre alt — in Strande mit
dem Vorsitzenden der Heimatgemeinschaft des Kreises Eckernförde, Detlef
Thomsen, Damendorf, bekannt gemacht, der für die Verkartung der Kirchenbücher
des Kreises Eckernförde Mitarbeiter suchte. Ich erklärte mich zur Mitarbeit
bereit und übernahm die Verkartung der Kirchenbücher des Kirchspiels
Dänischenhagen, die ich bis zum Jahre 1962 durchführte. In diesem Kirchspiel
war ich geboren, getauft, aufgewachsen und konfirmiert worden. Soweit ich
erinnere, fertigte ich ca. 21.000 Familienblätter und ca. 53.000 Tauf
(Geburts-) und Sterbekarten. Später habe ich noch die Kirchenbücher des
kleinen Kirchspiels Krusendorf verkartet und die Familienblätter des
Trauregisters Gettorf für die Zeit 1692 bis 1893 geschrieben. Nebenbei habe
ich Unterlagen über den größten Teil meiner Sippe (Baasch) sammeln können.
Nachzutragen habe ich noch den Verlauf der
Goldenen Konfirmation in Dänischenhagen am 21. September 1952, die von Pastor
Priebe, mit dem ich von 1954 bis zu seinem Heimgange am 2. Oktober 1972 bei
der Kirchenbuchverkartung zusammen arbeitete und viel Unterstützung fand, angeregt
und durchgeführt wurde. Der Dank der alten Konfirmanden war bei dem
Gottesdienst eine bis auf den letzten Platz gefüllte Kirche. Die Predigt
stand unter dem Wort: „Bis hierher hat der Herr geholfen“. Treffender konnte
das Wort für diesen Tag nicht gewählt werden. Es wurde den Zuhörern in einer
zu Herzen gehenden Ansprache nahe gebracht. Von meinen ehemaligen
Schulkameraden habe ich auf dieser Feier nur wenige getroffen. Pastor Priebe
habe ich zum letzten Male im Juni 1972 besuchen können. Er war schon sehr
leidend. Ich werde ihn nie vergessen und danke ihm für alle Hilfe, die ich
bei der Kirchenbuchverkartung durch ihn erfuhr.
Die Ruhestandszeit, die soviel verheißend begonnen
hatte, wurde getrübt durch die jahrelange Erkrankung meiner Frau (Diabetes),
der sie nach einem Schlaganfall am 13. Oktober 1961, fünf Tage vor ihrem 70.
Geburtstage, am 9. Januar 1962 nach dreimonatigem Krankenhausaufenthalt
erlag. Ihr ganzes Leben war Liebe und Fürsorge für ihre Familie.
Unsere am 10. Juni 1914 in Neumühlen-Dietrichsdorf
(Kiel-Neumühlen-Dietrichdorf) geborenen Kinder Harro und Marianne wurden
Ostern 1930 in der Kirche zu Schönkirchen konfirmiert. Unsere Tochter
erlernte im „Heinrich-Kinder-Hospital“ -Universitäts-Kinderklinik in Kiel-
den Beruf einer Kinderschwester. Sie arbeitete von 1936 bis 1943 im
„Cäcilienstift“ in Bad Lippspringe. Dort lernte sie ihren Mann, den
Volksschullehrer Wilhelm Hemeyer kennen, mit dem sie am 2. Januar 1943 die
Ehe schloss. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, Wilhelm Hermann,
geboren am 28. November 1943 in Delbrück, Kreis Paderborn und Annegret,
geboren am 2. August 1951 in Minden. Hermann machte im Frühjahr 1963 am
Bessel-Gymnasium in Minden sein Abitur und studierte in Marburg. Sein Ziel
war Studienrat. Er bestand sein Referendar- und Assessorexamen mit
Auszeichnung und war nach 1 1/2 jähriger Referendarzeit drei Jahre Studienrat
in Kassel, wo er am 14. März 1975 plötzlich und unerwartet einem Schlaganfall
erlag. Er war seit Juli 1968 verheiratet mit Christa geb. Kuhlmann aus
Kassel. Die Ehe blieb kinderlos.
Annegret besuchte das Karoline-von-Humboldt-Gymnasium in Minden bis zur
mittleren Reife und erlernte den Beruf als Arzthelferin. Sie heiratete am 24.
September 1975 in Hannover den Fernmeldetechniker Hans-Georg Färber. Der
Vater von Hermann und Annegret starb nach jahrelangem Leiden am 9. Februar
1964 in Minden.
Unser Sohn Harro besuchte die Oberrealschule in Kiel- Wellingdorf,
machte dort 1934 sein Abitur und war 1934/35 ein Jahr freiwillig im
Reichsarbeitsdienst in Neumünster. Anschließend ging er als Inspektoranwärter
zur Marine-Intendantur Kiel. Seine Ausbildungszeit wurde von Juli 1935 bis
Frühjahr 1936 durch Ableistung seiner Wehrdienstzeit bei der
Marine-Artillerie in Pillau unterbrochen. Während des 2. Weltkrieges war er
als Intendantur-Inspektor bzw. Intendantur-Oberinspektor in Norwegen. Zum
Schluss des Krieges wurde er noch zum Wehrdienst einberufen, wurde in der
Nähe von Königsberg verwundet, kam im April 1945 auf Umwegen nach Kiel und
musste nach beendeter Lazarettbehandlung in Kiel- Wik in das
Kriegsgefangenenlager in der Probstei gehen, aus dem er im August 1945
entlassen wurde. Mit der Beamtenlaufbahn in der Marine, die größtenteils
aufgelöst wurde, war es vorbei. Auch er musste, wie sein Vater vor vierzig
Jahren, von neuem beginnen. Nach vorübergehenden Beschäftigungen im
Behördendienst, zuletzt bei der Gemeindeverwaltung in BordeshoIm, wurde er im
Sommer 1952 zunächst als Angestellter bei der Landeshauptkasse Kiel
eingestellt, dem bald die Übernahme in das Beamtenverhältnis als
Regierungs-Inspektor folgte. Von der Landeshauptkasse wurde er als
Regierungs-Oberinspektor zur Personalabteilung im Finanzministerium versetzt.
Dort wurde er im Laufe der Zeit zum Amtsrat und Oberamtsrat befördert und war
zuletzt büroleitender Beamter daselbst. Im April 1959 erkrankte er erstmalig
an einem Herzinfarkt, der sich im Laufe der Jahre wiederholte und dem er am
11. Oktober 1975 durch einen Schlaganfall erlag. Er wurde 61 Jahre alt und
war seit dem 6. August verheiratet mir Ruth Groth verw. Hinrichs. Kinder sind
in dieser Ehe nicht.
Am 12. Februar feierte ich bei sehr guter
Gesundheit meinen 90. Geburtstag. Ein reich gesegnetes Leben liegt hinter
mir. Ich habe versucht, niederzuschreiben, wie es sich gestaltete.
Bei der Verkartung des Kirchenbuches
Dänischenhagen 1638 bis 1938, das einst auf Befehl des Erbauers und
Gouverneurs der 1632 angelegten Festung Christianspries, Axel U r u p, für
Rechnung des Kirchspiels angeschafft wurde, kamen viele bekannte Namen vor,
deren Träger mir ins Gedächtnis zurückgerufen wurden, manche mit ihren
Eigenarten und Schwächen.
„Von jedem, der mir durch das Leben ging, blieb
eine Spur an meiner Seele hangen. Doch bracht‘ ich auch ein Stäubchen mit von
jedem Wege, den ich bin gegangen“.
Wie oft habe ich in den letzten Jahrzehnten dies
kleine Verslein zitiert, habe auch oft hinzufügen können: „Was gewesen, kehrt
nicht wieder, kehret nie zurück. Ging es aber leuchtend nieder, leuchtet‘s
lange noch zurück“.
Dem Schicksal sei gedankt für alles Gute und
Schöne, das das Leben mit bot. Auch das Leid musste sein!
|